Intro 2002 ff. Seite A??
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Noch etwas Rag-time, diskographisch (1)
Weiter oben endete eine Diskussion mit einem Rag-time-Kapitel (Teil
4, Anmerkung 4: Eine der Dran-vorbei-Fußnoten). Dem folgt nun eine Fort-
setzung, daher der Titel. Und dieser soll auch deutlich machen, hier
wird es diskographisch zugehen, was wiederum heißt, es wird teilweise in
dunklem, hoffentlich nicht ganz zappedusterem Disko-Tann und -Gestrüpp
herumzuleuchten sein. Diskologie? Manche nennen Derartiges so. Mir
schwant aber eher, an Rag-time zu denken. Das Ungewohnte, Unbetonte wird
zum Betonten, Vertrauten, zum Ton. Wenn aber unterwegs doch stockfinste-
re Nacht hereinbricht? Dann droht ein Stolpern über verknorzteste Wur-
zeln. Eben ragged time - oder so. Oder so? Ja - bedenke: Nicht umsonst
heißt der berühmteste Rag-time "Tiger Rag".
1925 (veröffentlicht 1926)
Igor Strawinsky: Rag-time (und nicht Piano-rag-music)
Marcelle Meyer, Disque "Gramophone", W 727, EDIFO-Steuermarke
Beachte: Vom "originalen" HMV-Logo "Nipper in bunt" existieren
diverse Fassungen (vgl. hier diese mit einer von 1952).
"Δ"
Disque "Gramophone", W 727
Matrizennummer: Cc 7433 [Take] I - und die verdoppelte Auslaufrille
Foto: © 2013 parisluis/Camembert Records (Ebay-Händler) |
Gleiches Etikett wie oben, diesmal mit Pleyel-Steuermarke
Foto: bachisback (Ebay-Händler) |
Hatte einst auch eine Steuermarke und zwar eine von Pleyel.
Igor Strawinsky, Le Sacre du Printemps
Pierre Monteux, Grand Orchestre Symphonique
Disque "Gramophone" W-1016 (aus W-1016 bis W-1019), Januar 1929
(Erste Einspielung des Werks, es folgten Strawinsky und Stokowski.)
A) Elektrischer Meilenstein
Sammler und anverwandt Handelnde disko-philosophieren gelegentlich
miteinander. Eines der Kardinalthemen dabei ist: Welches sind die
Hauptstufen der Tonträgergeschichte? Und schon, man glaubt es nicht,
laden sich bei einer derartigen, als zu unverblümt empfundenen Frage
die Adrenalin-Batterien auf. Nur ruhig, Leute, Ruhe! Denn im Verlauf
eines solchen Tiefschürfens zeichnet sich meist sehr bald ab, daß die
Dispute - zumindest in den ersten Meinungsrunden - auch gemach bleiben
können, zumal einige Markierungspfähle wohl noch nicht einmal durch
heftigste Auffassungsgewitter aus den Verankerungen gerissen werden
können.
Benannt werden bei Unterfangen der angedeuteten Art in der Regel
zunächst die beiden tatsächlichen Anfänge. Aber sind sie auf diesem
Gebiet wirklich als Adam und Eva anzusehen? Wäre nicht alles automa-
tisch so gekommen, wie es kam, zwangsläufig, irgendwann, irgendwie von
irgendwem? Theoretische Vorläufer gab es, wie man weiß. Und gilt eine
solche Art von Urheberbeliebigkeit nicht für alles Nachfolgende auch?
Wie auch immer, mit oder ohne genialische Genkarte - wiedergegeben sei
hier die virtuelle Aufzeichnung eines solcherart berüchtigten Disko-
Diskurses, aber nur als Zusammenschnitt, denn es ging zu lange hin und
her über historisch scheinbar Wichtiges und weniger Wichtiges. Ein
Denkprotokoll also, in dem ein roter Geschichtsfaden aber durchaus
erkannt werden kann (ob allerdings die späterhin doch sehr munter
gewordenen Vergangenheits- und Gegenwartssterndeuter auf dem Heimweg
noch Frieden hielten, ist dem Geheimchronisten nicht bekannt):
1877 krächzt Thomas Alva Edison "Hello" und "Mary had a little
lamb" ins Wachspapier, dem folgt 1888 für seine Tonwalze, für seinen
"Edison-Zylinder", der mühevolle, alles, jedermann und den Erfinder
schlauchende Beginn der Mengenfertigung ("Markteinführung der indu-
striellen Tonträgerproduktion" wird das in so manchem historischen
Traktat genannt werden). Ein Jahr zuvor schon, 1887 also, hatte es
einer fertiggebracht, etwas hinzukriegen, was eine enorm folgenträch-
tige Spätgeburt wurde, statt der Walze eine Scheibe, die Schallplatte
war da, in etwa da. Immerhin, diesen Schritt haben wir Emile Berliner
zu verdanken, und somit auch um 1890 die erneute "Markteinführung der
Tonträgermassenproduktion", diesmal aber etwas wirklicher, denn die
nun auf einfachere Weise erreichbare Herstellung en masse, nämlich
per Preßgerät à la Waffeleisen (aber nur halbverstanden, weil bloß
einseitig), war der eigentliche, der große Clou der Nacherfindung.
Dann tönte es lange Zeit blechern, knöchern, tönern, vor allem
aber rauschte es fast 60 Jahre lang zum Gott Erbarmen. Das änderte
sich 1948, die Tonträgergeschichte macht einen Meilensatz: Es stellt
auf der Basis von Vorläuferunternehmungen die amerikanische Columbia
als volksnahes Marktprodukt die geräuscharme Langspielplatte vor
(18. Juni 1948), wobei uns 1957 die englische Decca diesen Super-
Konsumartikel zur marktreifen Schallplatten-Stereophonie führt, was
sofort andere, wie im Jazz das Etikett Verve (USA), Silberpfeil-
schnell inspiriert (Stereophonie gab es, nebenbei bemerkt, schon
lange davor, anhörbare Gestalt annehmend auf Bändern der in Berlin
ansässigen Reichs-Rundfunk-Gesellschaft m.b.H. bereits spätestens
1942). 1982 schließlich (für etliche aber nicht: endlich) gilt als
das Jahr, in dem die Marktproduktion der CompactDisc (1981 vorge-
stellt) in die volkswirtschaftliche Tat umgesetzt wurde. Doch ob
dieser Schritt in der Geschichte der Schallaufzeichnung wirklich als
eine Hauptstufe aufzufassen sei, erhitzt nicht nur dieses oder jenes
etwas cholerisch veranlagte Disko-Gemüt, auch an und für sich ruhigere
Artgenossen werden auf dieser Plattform zu Tonträger-Musketieren: Die
CD nur ein Konfektionsformat? Und wie lang hält sie? Eine bange Frage.
So lang wie eine Schellack oder LP? Doch zurück zur Basisfrage: Was
passiert schon klanglich Neues auf diesem Medium? Und damit hätten wir
die Grundlage für den neuen Zankapfel im Visier: die digitale Auf-
zeichnung, diese "Jahrtausenderfindung", sie gab es übrigens schon
einige Jahre zuvor, auf Band, vor allem auf Video-Band. Brachte sie
aber musikalisch - MUSIKALISCH! - ein verbessertes Hörereignis?
Man könnte noch weitere interessante Treppenstufen anführen, z.B.
das Anfang der 1980er Jahre von Telefunken emsig vorgestellte Schneid-
verfahren DirectMetalMastering, das der LP zwei den Klang verunklaren-
de Fertigungstufen ersparte (nicht nur eine, wie gelegentlich zu lesen,
sondern zwei: Folie und Vater), ganz ohne Ergebnistrübungen war das
allerdings auch nicht. Und viel weiter zurück: Das Jahr 1904 sollte
nicht vergessen werden, hier kam Odeon auf die Idee, das Waffeleisen
ernst zu nehmen und von nun an Platten auch "zweiseitig bespielt" an-
zubieten. Sie wird sich durchsetzen, diese "Waffeltechnik", und, oh
Staunen, oh Wunder, sie wird sogar bei der CD eingesetzt, aber nur
äußerst spärlich, so richtig will keiner was von dieser "Nacherfin-
dung" wissen. Auf solche Barrieren stieß die Tochter, die "Langspiel-
CD", DVD mit Namen, nicht. Sie ist als "Waffelprodukt", also doppel-
seitig bespielt, auf dem Markt.
Wurden noch irgendwelche wichtigen Himmelsleitern zu Apoll nicht
genannt? Sicherlich. Eine ist z.B. das Tonband, ein horizontenent-
wickelnder Riesendreisprung, darin sind sich doch wohl alle einig.
Gerade im Hinblick auf die enorme Entwicklung, die durch die LP ent-
stand. Natürlich, zu diesem Aufzeichnungsmittel Band, heute als nahe-
zu paläontologisch vermutet, einst in Fachkreisen liebevoll "Schnür-
senkel" gerufen, könnte man noch einiges sagen, doch soll an dieser
Stelle die Aufreihung von historischen Markierungspunkten gestoppt
werden, allerdings nicht ohne noch auf eine Perle hinzuweisen, der
wahrscheinlich keiner (wie wohl auch dem Tonband und der Stereophonie
nicht) den Lorbeerkranz fundamentaler Quantensprung absprechen wird,
gemeint ist die praktische Einführung der elektrischen Aufzeichnung.
Sie kam 1925 (im Zusammenhang mit der gerade angelaufenen Rundfunk-
entwicklung). Und eine der führenden Firmen hierbei war die englische
Gramophone Company Ltd., wobei sich unter deren nun so neuen und
sensationellen Aufnahmen dieses Jahres auch eine Einspielung eines
Werks desjenigen Komponisten befindet, der in dieser Zeit für Neues
schlechthin steht, der den Ton und Rhythmus der Modernisten ungleich
treffend zu Papier zu bringen weiß: Igor Strawinsky. Marcelle Meyer
(1897-1958) trägt das Stück vor (siehe oben das Etikett) und sie
gehört somit auch zu den ersten Künstlern, denen der Quantensprung zu
Gute kam. Sie spielte im übrigen 1925 für Gramophone mehrere Platten-
seiten elektrisch ein. Gleichwie, die "Ragtime"-Aufnahme entstand am
1. Dezember 1925, wurde 1926 in England auf His Master's Voice (D 1063,
30-cm-Platte) veröffentlicht, kam außerdem, wie oben zu sehen, auch in
Frankreich auf den Markt, unter dem Etikett Disque "Gramophone", einem
Etikett der französischen Gramophone-Tochter La Voix de son Maître (zur
Identifikation des Werks und Gleichsetzung der beiden Ausgaben beachte
die Ausführungen weiter unten).
Die andere Seite der Platte (beider Ausgaben) enthält Navarra von
Isaac Albéniz. Dieses unvollendet gebliebene Klavierstück "vervollstän-
digte" Joseph-Marie Déodat de Séverac (1872-1921). Genannt ist de
Séverac auf dem Etikett nicht.
Diskographische Einzelheiten (zusammengefaßt)
Interpretin:
Marcelle Meyer, Klavier
Werke:
Igor Strawinsky: Rag-time
Isaac Albéniz: Navarra (unvollendet, "vollendet" von
Joseph-Marie Déodat de Séverac)
Aufnahmedaten:
London, 1. Dezember 1925
Elektrische Aufnahme
30-cm-Platte
Erstausgabe:
His Master's Voice (England), D 1063
Veröffentlicht: Anfang 1926
Übernahme:
Disque "Gramophone" (Frankreich), W 727
Katalognummern:
05869 / 05870 (Strawinsky / Albeniz)
Matrizennummern:
Cc 7433-1 / Cc 7434-3 (Strawinsky / Albeniz)
Wiederveröffentlichungen:
CD, EMI (Frankreich), mehrfach (siehe unten)
B) Verdoppelte Auslaufrille - ein Übergangssymptom
Die Gramophone Company kennzeichnete ihre elektrischen Aufnahmen,
die Matrizennummerbeurkundung abschließend, mit speziellen Zeichen:
Dreieck, Quadrat, Rechteck, Raute (Rhombus), geschwungene Swastika
(= verrundetes Hakenkreuz). Andere Firmen verwendeten andere Kenn-
zeichnungen. Das obige Foto zeigt die Dreieck-Variante.
Die "Briefmarke", die die erste Platte trägt, stammt von der Société
Générale Internationale de l’Édition Phonographique, 80, Rue Taitbout,
Paris [9e] (EDIFO). Eine solche Gebührenmarke (Schutzmarke, Timbre de
Taxe) soll deutlich machen, daß ordnungsgemäß Lizenzen erworben wurden,
Gebühren an die "EDIFO" abgeführt werden, und zwar für den Artikelart
"GRAMOPHONE / No 120". Derlei Gebührenmarken, den Verteilungskampf um
Einkünfte anzeigend, gab es damals sehr zahlreich, diskographisch gese-
hen, ein weitreichendes Sondergebiet.
Marken dieser Art findet man auch auf einem anderen Tonträger der
Zeit, auf Klavierrollen. So z.B. auf den in Paris produzierten (zweck-
mäßigerweise von der Diskographie miterfaßten) Pleyela-Rollen Strawin-
skys, und zwar innen auf der Rolle selbst. Meine Unterlagen zeigen zwei
Arten, der eine Typ ist genau derjenige, den oben die Platte trägt, nur
daß ins an sich freie, mit "EDIFO" gekennzeichnete Feld, "PM" aufge-
stempelt ist (PM = Piano Mécanique). Dieses "PM" trifft man auch auf
Schachteletiketten an, wie unten die Abbildung zeigt: aufgestempelt
(oder auch gedruckt).
Nun noch zur Überschrift dieses Kapitels: Vor Einführung der soge-
nannten elektrischen Aufnahme (per Mikrophon und Spulenschneider) war
der Trichter das Schmuckstück von Wohnstuben und Gasthäusern. Je größer
je lauter. Anziehungsgegenstände eines jeden "althistorischen" Schall-
plattenschmuckbandes und natürlich auch vieler Ausstellungen. Nur: Der
Trichterklang wurde gespeist mittels eines Tonarms mit Nadeldose, und
diese Nadeldose war eine Schalldose. So weit so gut, das alles hatte
aber einige Haken, einer war: Nadel und Dose waren kein Leichttonab-
nehmergespann, sie hatten einiges an "Schwerstarbeit" zu leisten, was
nicht nur dem Schellack schadete, es bestand auch die Gefahr, daß der
Arm seiner eigenen Orientierung folgte. Deshalb versuchte man, ihn mit
technischen Tricks zu bändigen, insbesondere am Anfang und am Ende des
Abspielvorgangs. Dazu hatten Platten vieler Firmen zum einen am Rand
eine wallähnliche Erhöhung, eine Art Schutzwall. Damit sollte die Ge-
fahr des Abtriftens, Abrutschens nach außen hin etwas veringert wer-
den. Dem entsprach zum andern eine Begrenzung nach innen: Die Nadel
lief nach dem Abspielen in eine spezielle Auslaufrille, die eigent-
lich eine Rinne war: Eine Rille, umgeben von zwei Schutzwällen. Nach
und nach machte sich aber der Zahn der Zeit, vor allem in Gestalt der
Fortentwicklung zur elektrischen Abspielung, an die Arbeit. Es wurde
nicht nur die - ohnehin schon stark zurückgedrängte - wallgeschützte
Auslaufrille obsolet, auch ihre Nachfolgerin wurde das. Dies war eine
doppelte Auslaufrille ohne Wälle, wobei die innenliegende mit der
vorherigen gar keinen Kontakt hatte. Sie war lediglich so etwas wie
eine Sicherheitsrille, eine mögliche zweite Barriere für den Fall,
daß die Nadel übersprang. Der Abschied von derlei Abspielgehilfinnen
ging im Produktionsalltag hier und da nur langsam vonstatten. Die
Verdopplung der Auslaufrille hielt sich bei manchen Firmen sogar recht
lange (siehe weiter unten die Commodore-Abbildung). Gleichwie, für die
vielleicht gar nicht so sehr augenfälligen Auslaufrillen (welcher Art
auch immer) war die Lebenszeit angezählt, sie wurden Anachronismen,
also in der Tat "Auslauf"-Rillen.
C) Piano-rag-music versus Rag-time: Ente 1
Am 1. April 1926 erschien in der Musical Times eine Besprechung der
Gramophone-Platte His Master's Voice D 1063 {*3}:
... Another very live record is that of Marcelle Meyer's
playing of Stavinsky's 'Ragtime' and Albeniz's 'Navarra'
(D 1063). The Stravinsky piece is all broken bottles and
tin-tacks, so to speak, but it has an interest of its own,
and it is well that such things should be recorded, seeing
that even a good average player can make little of them.
Miss Meyer is about the best exponent of Stravinsky, and
much as one may dislike 'Ragtime', there is pleasure in
hearing its formidable difficulties so lightheartedly set
about and overcome. One thinks of this brilliant player as
the Suzanne of the keyboard [Suzanne Lenglen (1899–1938),
"La Divine", gefeierte französische Tennisspielerin]...
Hier ist also noch von "Ragtime" die Rede. Und das ist auch richtig
so, zumindest kann man das so von der französischen Ausgabe, Disque
"Gramophone" W 727, ableiten {*4}. Zudem ist die Aufnahme den Angaben
nach auch auf CDs erschienen. Zum einen im Februar 1992 in einer ständig
wiederaufgelegten Box mit 6 CDs: Les Introuvables de Marcelle Meyer
[Vol. 1], EMI Classics (Frankreich) 767405 2, und zum anderen im October
2007 in einer Box mit sage und schreibe 17 CDs: Marcelle Meyer, Ses
enregistrements 1925-1957, EMI Classics (Frankreich) 384699 2. Beide
Sammlungen lösten in Sammlerkreisen ein überaus positives Echo aus. Als
Beispiel diene der Hinweis, daß die 17-CD-Box "Ses enregistrements 1925-
1957" mit zwei sehr begehrten französischen Preisen ausgezeichnet wurde:
"Diapason d'Or" und "Choc du Monde de la Musique de l'Année 2008".
Nominell enthalten sowohl die 6er als auch die 17er Box die sechs von
Marcelle Meyer eingespielten Plattenaufnahmen Strawinskyscher Werke,
deren Existenz diskographisch seit Jahrzehnten bekannt war, an Werken
sind das fünf:
Rag-time (1917/1918, © 1919)
Piano-rag-music (1918/1919, © 1920)
Trois mouvements de Pétrouchka (1921, © 1922)
Sonate (1924, © 1925)
Sérénade en la (1925, © 1926)
(Entstehungs- und Veröffentlichungsdaten nach meinen Unterlagen)
Wie also zu sehen, der Rag-time ist dabei, und von diesem waren bei
mir bislang zwei Aufnahmen verzettelt, die eine davon ist diejenige von
1925 (siehe oben). Ich kenne die beiden CD-Sammlungen nicht, aber der
allgemeine Zuspruch, die in Sammlerkreisen weltweite Akzeptanz, in
etlichen Rezensionen geäußert, lassen auch von den CD-Ausgaben her
keinen Zweifel zu: Es handelt sich bei der 1925er Einspielung eines
Werkes Strawinskys wirklich um den Rag-time.
Dieser Auffassung war man nicht immer: Es kam zu einer seltsamen
Verwechslung. Und da das in der wichtigen diskographischen Literatur
eine folgenreiche Rolle spielte, soll hier die Gelegenheit genutzt
werden, die Gründzüge der Sachlage rund um die besagte Fehlinformation
darzustellen.
Zunächst zu weiteren zeitgenössischen Quellen. "Ragtime" steht auch
- und also richtig - in der vom Gramophone Shop, New York City, 1930
veröffentlichten Encyclopedia of the World's Best Recorded Music (sie
erschien spätestens im Dezember 1929), genannt ist nur die Gramophone-
Ausgabe D 1063 {*5}. Genau diese Auskunft bietet auch die zweite Aus-
gabe der Encyclopedia (1931) {*6}. André Schaeffner hat in seinem
berühmten, 1931 in Paris erschienenen Buch "Strawinsky" den "Ragtime"
zwar genannt, vergaß aber die Einzelheiten (Interpret und Plattennum-
mer) hinzusetzen {*7}. Da es jedoch keine weitere Plattenaufnahme des
Stücks gab (noch mehr als 20 Jahre nach der Meyerschen Ersteinspielung
nicht!), kann nur die für die Gramophone Company eingespielte Platte
gemeint sein.
Nun zu Walter Eric White, dem Musikforscher, der 1966 die zentrale
Strawinsky-Darstellung veröffentlichen wird (zweite, erweiterte Auf-
lage: 1979). Zunächst verzeichnet er in seiner frühen Arbeit von 1930,
Stravinsky's Sacrifice to Apollo, daß Marcelle Meyer auf "H.M.V. D
1063" den Rag-time spielt (der Eintrag beginnt unmißverständlich mit
"RAGTIME: piano version...") {*8}. Doch dann kommt 1947 sein so ein-
flußreiches Werk "Stravinsky / A Critical Survey" auf den Markt {*9},
und da steht im "Appendix B / List of Recordings", Abteilung "(2) For
Gramophone." unter "PIANO-RAG-MUSIC" sage und schreibe "Marcelle Meyer
(piano) H.M.V. D 1063". Und diesen überraschenden Fehler weist dann
auch die Ende 1949, spätestens 1950 erschienene deutsche Ausgabe des
Buchs auf {*10}, und das, obwohl die (wieder im Anhang B) beigefügte
Diskographie unübersehbar eine - als solche nicht ausgewiesene - aktu-
alisierte Fassung ist.
Die Entstehung des Irrtums ist rätselhaft. Allerdings fällt auf, daß
White in seiner "List of Works" (= Appendix A) die Klavierfassung des
Rag-time nicht angibt. Das sagt aber eigentlich nichts. Denn er ver-
zeichnet, das scheint Methode zu haben, auch andere Klavierfassungen
nicht. Die Möglichkeit im übrigen, daß White die in England von Chester
verlegte Klavierfasssung womöglich nicht kannte, ist noch nicht einmal
denkbar. Außerdem: 1930 war die Angabe doch richtig!
Im Fließtext kommt der Rag-time fast nur dem Namen nach vor, er wird
nebenbei erwähnt, das allerdings im positiven Licht. Genau umgekehrt ist
dies bei der Piano-rag-music. Sie wird gesondert diskutiert und im Ver-
gleich zum "fluent and even-tempered" Rag-time als ein Stück begriffen,
bei dem der Komponist "a somewhat incoherent whole" geschaffen habe, er
hätte gelegentlich vor "preoccupation with the delights of syncopation
[...] the necessity of having something of musical importance to synco-
pate" vergessen. Wenig schmeichelhaft (doch später, 1966 bzw. 1979,
folgt aus der Sachlage eine andere Bewertung, eine positive; vielleicht
hat hierbei Marcelle Meyers 1955er Interpretation, siehe weiter unten,
White zum Überdenken angeregt). Wie auch immer, aus Whites Vergleich
schwingt für mich mit, daß das alles vom Klavier aus gesehen wurde.
White war Pianist. Wieder ein Hinweis derart, daß man White nicht unter-
stellen kann, er habe die Klavierfassung des Rag-time nicht oder nur
unter ferner liefen gekannt. Explizite genannt ist die Klavierfassung im
Darstellungstext allerdings nicht.
Die nicht besonders geliebte Piano-rag-music erhielt jedoch nicht nur
einen gesonderten Textplatz zugewiesen, sie kommt auch auf der Abbil-
dungsebene vor. Sowohl die 1947er als auch die 1949er (1950er?) Fassung
des Buches enthalten ein bekanntes Foto, das 1924 von Boris Lipnitzki
(Studio Lipnitzki, Paris) geschossen wurde: Strawinsky, die Ärmel hoch-
gekrempelt, am Klavier. Die Bildunterschrift erläutert, er probe gerade
die Piano-rag-music. Das stimmt in der Tat, denn aufgeschlagen ist die
letzte Notenseite des Chester-Drucks. (Das Foto nicht verwechseln mit
dem sehr ähnlichen in der in den 1920er Jahren erschienenen Renard-
Taschenpartitur des Wiener Philharmonischen Verlags. Dieses ebenfalls
von Lipnitzki stammende Foto, sei, laut eines Strawinsky-Ausstellungs-
katalogs, 1929 aufgenommen worden. Es zeigt den Komponisten zwar auch
am Flügel, jedoch im Anzug. Die Datierung "1929" ist möglicherweise
falsch. Sachlage ist in Recherche.)
Wie zu sehen, erscheint also in Whites Buch von 1947 (deutsche Fas-
sung analog) der Rag-time der Tendenz nach etwas aus dem Blickwinkel
gerückt, wenn auch, wie zu erwarten, in der Aufnahmenliste unter
"RAGTIME" Strawinskys 1934 entstandene Aufnahme der Ensemblefassung
angeführt ist: Columbia LX 382. Als Klavieraufnahme hätte hier nur die
Meyersche stehen können, weil, wie oben schon angedeutet, immer noch
keine weitere existierte. Strawinsky hat, nebenbei vermerkt, auf Platte
keine Klavieraufnahme des Rag-time hinterlassen. Von der Piano-rag-
music hingegen spielte er 1934 eine Aufnahme ein. Sie erschien eben-
falls auf Columbia LX 382 und ist auch in Whites Liste angegeben, und
zwar am richtigen Ort, unter "PIANO-RAG-MUSIC", wo eben auch H.M.V. D
1063 steht.
Sehr viel weiter sind wir bei der Suche nach der Ursache des Irrtums
noch nicht gekommen. Vielleicht steckt aber ein Fingerzeig in der Tat-
sache, daß im White 1947 in der "List of Recordings" unter "(1) For
Mechanical Piano." die Pleyela-Rolle des von Strawinsky eingespielten
Rag-time (8450) fehlt, wohingegen die Rolle mit der Piano-rag-music,
Pleyela 8483, in der Liste vorhanden ist. Genau diese Situation finden
wir auch in seinem 1966 veröffentlichten Standardwerk und ebenso in
dessen verbesserter Auflage von 1979 vor: die Rag-time-Rolle fehlt.
Somit liegt nahe zu vermuten, daß im Lauf der Zeit in Whites Einspie-
lungsvorstellungen die Piano-rag-music für den Rag-time irgendeine
Stellvertreterrolle eingenommen hatte. Doch in den Kopf will einem
diese Erklärungskrücke nicht so richtig.
Beachte: Sieht man von zeitgenössischen, originalen Pleyela-Materi-
alien, wie Katalogen, Annoncen und dergleichen, ab, so scheint die
Rag-time-Rolle erst in Internet-Listen wieder aufgetaucht zu sein.
Denn in sämtlichen Aufstellungen, denen ich in der Strawinsky-Druck-
literatur begegnet bin, fehlt diese Rolle. Eigenartig, aber typisch:
Das alles liegt im Wesen der Abschreibtradition, die im Kopiersystem
par excellence, WWW, ein Aufblühen epidemischen Ausmaßes erreicht hat.
Wie denn auch wohl die meisten der dort wiedergegebenen Pleyela-
Rollenlisten Kopien sein dürften, die vermutlich alle irgendwie von
einer einzigen Vorlage abstammen. Die Urvorlage für die gedruckten
Pleyela-Listen in der Strawinsky-Literatur scheint drolliger Weise
eine Pleyela-Anzeige gewesen zu sein, und zwar diejenige, die im Stra-
winsky gewidmeten Heft der Musikzeitschrift La Revue Musicale vom 1.
Dezember 1923 abgedruckt ist (Paris, 5e année, numéro deux, letzte
Umschlagseite). Das ist eine Quelle, die sich unmittelbar im Bereich
Musikforschung befindet und somit für die Leute vom Fach leicht zu-
gänglich war (und ist). Und genau in dieser Liste fehlt der Rag-time!
Wobei wir nun wieder bei Whites Buch von 1930 angelangt sind: Stra-
vinsky's Sacrifice to Apollo. Hier sind in der Aufstellung "Pianola
Rolls" nur solche der Firmen Duo-Art und Pianola angegeben. Die Pleyela-
Rollen (ohne den Rag-time) tauchen erst 1947 auf. Aha, man muß nicht
Träger eines Nobel-Preises sein, um schließen zu können und zu dürfen,
daß White als Quelle wohl die Pleyela-Annonce von 1923 vorlag. Denn
weitere Literatur dazu, gemeint ist wissenschaftliche Literatur, gab
es zwischen 1923 und 1947 nicht. So weit, so gut, zur Erklärung der
Verwechslung scheint das alles aber nichts beizutragen.
Pleyela 8438 *, Paris 1921
Etikett "inside [Rolle] + outside [Schachtel]"
Einblick in eine Frankfurter Strawinsky-Werkstatt (um 1980)
Abteilung: Klavierrollen
Fachlatein: Musique enregistrée = Direkteinspielung = Künstlerrolle
(Handschrift: Louis Cyr) {*11}
Whites Strawinsky-Arbeiten genossen schon früh zu Recht großes
Ansehen, und so kam es wohl, daß sein Rag-time-Irrtum die Grundlage
bildete für diskographisch weitreichende Folgen. Die ersten, die, man
kann es kaum anders formulieren, auf die Ente reinfielen, waren das
der Schallplattenforschung heute so vertraute Diskographen-Paar Francis
F. Clough und Geoffrey J. Cuming {*12} {*15}. In ihrer im Sommer 1948
veröffentlichten Arbeit "IGOR STRAWINSKY ON RECORDS" steht in aller
Unschuld unter "Piano Rag Music" die Gramophone-Ausgabe "H.M.V. D 1063",
Interpretin: "M. Meyer". Als ungefähre Datierung geben sie 1926 an.
Stimmt. Man muß bei dieser Diskographie mitbedenken: Sie erschien nicht
irgendwo, sie erschien in der Zeitschrift "TEMPO", die von Strawinskys
Londoner Verlagshaus Boosey & Hawkes herausgegeben wurde, das 1946 die
Strawinsky betreffenden Verlagsrechte des einstigen Berliner Russischen
Musikverlags gekauft hatte, darunter Werke wie Pétrouchka und Le Sacre
du Printemps. Zudem war das ganze Tempo-Heft dem Komponisten gewidmet,
auf dem Titelblatt steht unübersehbar: Strawinsky Number {*12}. Am In-
halt merkt man das dann auch: Verbeugungen bis Bodennähe. Ein Jubeljahr
muß man sich allerdings zusammenreimen: Vielleicht 35 Jahre Sacre oder
bezogen auf den Geburtstag (* 1882) die Schnapszahl 66. Oder wahrschein-
licher: Eine Nachfeier anläßlich der Aufnahme des weltberühmten Komponi-
sten ins eigene Geschäft (in der nächsten Tempo-Ausgabe ist übrigens
Aaron Copland dran, * 1900, ein Jubiläum ist da allerdings auch nicht in
Sicht, auf den ersten Blick jedenfalls).
Etwa ein halbes Jahr nach dieser Clough and Cuming-Arbeit wird für
das von Minna Lederman herausgegebene, viel gepriesene, weithin bekannte
und vielfach nachgedruckte Buch "Stravinsky in the Theatre" (New York
1949) eine Liste "Recordings of Music by Igor Stravinsky" zusammenge-
stellt {*13}; man läßt sich durch nichts beirren und folgt unter "Piano
Rag-Music" der nun kreierten und autoritativ gut abgesicherten Enten-
tradition, dem gewohnten Bild also, das auch die Liste "SUGGESTED
GRAMOPHONE RECORDINGS" in dem von Rollo Hugh Myers verfaßten, 1950 in
London erschienenen Bändchen "Introduction to the Music of Stravinsky"
zeigt {*14}. Und genau diese Sachlage findet man auch vor in der
"GRAMOFOON"-Plattenaufstellung, die dem 1951 in Holland veröffentlich-
ten Buch von Marius Monnikendam "Igor Strawinsky" beigefügt ist {*14}.
Allerdings muß bei den letzten beiden Fällen einschränkend hinzuge-
fügt werden, daß die beigefügten Plattenaufstellungen keine neuen
Produkte der Autoren sind, sie sind vielmehr Wiedergaben der von Clough
und Cuming 1948 in der Zeitschrift Tempo veröffentlichten grundlegenden
Auflistung, wobei befremdenderweise in beiden Fällen die Namen der Dis-
kographen nicht genannt sind (Weiteres siehe Fußnote {*14}).
Seit langem schon arbeiteten Clough und Cuming an ihrer diskographi-
schen Gesamtdarstellung der elektrisch aufgenommenen Platten (1925 ff.):
The World's Encyclopaedia of Recorded Music (WERM). Das erste Ergebnis,
das Hauptwerk, erschien samt erstem Ergänzungsband 1952, wobei als Stand
für den Hauptband April 1950 angegeben ist {*15}. Und hier in diesem
Teil trifft man denn auch unter Strawinsky erwartungsgemäß auf Marcelle
Meyers Einspielung, doch, wie gehabt, nicht unter Rag-time, sondern eben
unter "Piano Rag-Music 1920" (zu "1920" siehe oben die Titelaufstel-
lung), diesmal allerdings mit den beiden bekannten Ausgaben: der Gramo-
phone H.M.V. D 1063 und der französischen Pressung Disque "Gramophone"
W 727. Eine Klavierfassung des Rag-time ist unter "Ragtime 11 Insts.
1918" (zu "1918" siehe wieder oben die Titelaufstellung) nicht angege-
ben, ist auch nicht möglich, denn es gab noch immer keine weitere (doch
vgl. hierzu die nachfolgenden Ausführungen).
Soweit der Bericht über eine wundersame Entstehung und Weiterreichung
eines Fehlers, dem zudem offenbar keine Korrektur beschieden war, in der
WERM jedenfalls nicht. Beachte hierbei: Die letzte Aussage schließt die
langen WERM-Corrigenda-Listen von 1953 (Ergänzungsband 2) und 1957 (Er-
gänzungsband 3) mit ein.
Anfänge zwecks Identifikation (vor allem für die nachfolgend geschil-
derten Rätsel):
Rag-time
Piano-rag-music
Weiter
[intro07]
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