Intro 2002 ff. Seite A48a.x
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Pulcinella: Orchester-Suite, Partituren bis 2002, Editorisches 3
Aufkleber Leih- bzw. Mietmaterial
Beide Partiturexemplare - Partitur "1" und Partitur "4" - hatten zur
Zeit der Einsichtnahme (Anfang 2010) auf dem Deckel im unteren Drittel
ein zweites Etikett, einen speziellen Boosey & Hawkes-Aufkleber, der
die Partituren als ausgeliehenes Material kennzeichnete und der die-
jenigen Nutzer, die es noch nicht wissen sollten, darüber aufkärt, es
handele sich hierbei um Ausgeliehenes, mit dem pfleglich umzugehen sei,
ansonsten drohe Ersatzanspruch. Allerdings gehörten die vorgefundenen
Aufkleber bereits einer jüngeren Generation an, das heißt, die ursprüng-
liche Fassung war jeweils durch eine neuere gleichen Belehrungsinhalts
ersetzt worden, bei der Partitur "1" durch einfache Überklebung, bei der
"4" durch Entfernung des alten Etiketts, dem der anschließende Ersatz
gefolgt war. Diese neueren Fassungen waren u.a. an der leicht abgewan-
delten Überschrift zu erkennen, sie lautet "MIETMATERIAL", während die
Vorgängerversion stattdessen "LEIHMATERIAL" als Hinweis trug. Erwähnt
werden muß in dieser Grundbeschreibung noch, daß die beiden neuen Auf-
kleber ihrerseits schon unterschiedlichen Generationen angehörten, und
dies weist auf das Thema hin, das uns nachfolgend sehr beschäftigen wird
(beachte: alle bisher vorgefundenen Leih- und Mietmaterial-Etikette hat-
ten die Maße 12 x 8 cm, ausgenommen das letzte "BonnerEtikett": 10,6 x
6,8 cm, siehe unten; Abbildung des ursprünglichen Aufklebers auf den
Partituren "1" und "4" siehe weiter unten).
Das Erstettiket, mit dem die hier beschriebene Partiturengeneration
ausgestattet worden war, trug neben "LEIHMATERIAL" als ein weiteres
Kennzeichen die Adresse "53 BONN 1, Kronprinzenstraße 26". Partitur "4"
wies diese Version sogar noch auf, und zwar auf der Titelseite (= Seite
[1]). Das Nachfolgeetikett auf dem Deckel der Partitur "1" trug dagegen
die Adresse "Justus-von-Liebig-Straße 22 · 5300 Bonn 1" und diese weist
es als nicht der direkten Nachfolgeversion zugehörig aus, sondern hier
zeigt sich, daß eine Generation der "MIETMATERIAL"-Etikette übersprungen
worden war (Weiteres siehe unten). Nur eine Stufe weiter als die eben
genannte Version war das Etikett, das auf der Titelseite (= Seite [1])
der Partitur "1" das ursprüngliche Etikett "Kronprinzenstraße" über-
deckt, dieses ist gekennzeichnet durch eine kleine Veränderung der
Adresse: "Justus-von-Liebig-Straße 22 · 53121 Bonn". Damit sind wir
allerdings, wie unten in Umrissen beschrieben, in der Zeit schon recht
weit fortgeschritten, doch noch weiter führt das Etikett auf dem Deckel
der Partitur "4", es gehört nach den "Bonner Modi" dem "Berliner Modus"
der "MIETMATERIAL"-Etikette an, es ist die Boosey & Hawkes / Bote &
Bock-Variante, die Adresse lautet "Lützowufer 26 · 10787 Berlin".
Beide Partituren wiesen hier und da, auf jeden Fall aber auf der Ti-
telseite und auf der ersten Notenseite (= Seite 3), den immer und immer
wieder anzutreffenden alten violetten Stempel auf:
BOOSEY & HAWKES GMBH
- Leihbibliothek -
53 BONN - 1
Auch das auf der Partitur "1" aufgeklebte Mietmaterial-Etikett (Fas-
sung "Justus-von-Liebig-Straße 22 · 5300 Bonn 1") "zierte" ein Stempel.
Es war jedoch nicht der althergebrachte, sondern einer der Nachfolger
(ebenfalls violett): BOOSEY & HAWKES / Musikverlag / - Leihbibliothek -
/ Postfach 1264 / 53002 Bonn" (zur Datierung siehe weiter unten).
Die Aufschlüsselung der Etikettaufdrucke ist keine reine Sammelspie-
lerei, sie führt zu einer Datierungshilfe, zu einem einfachen Mittel
zudem, bei manch einer Partitur in etwa eine Aussage zur Häufigkeit des
Gebrauchs formulieren zu können. Hierbei zeigt sich z.B. bei den 1970er
Pulcinella-Suite-Partituren "1" und "2", daß sie stetig im Leihverkehr-
einsatz waren - und das immer noch sind, denn sie wurden 2010 für eine
Rundfunkproduktion zusammen mit zwei Partituren der neueren Generatio-
nen verschickt.
Zur Datierung der Leih- bzw. Mietmaterialaufkleber
Zu den Adreßvarianten läßt sich auf der Grundlage der englischen
Boosey & Hawkes-Hauszeitschift "Tempo" - soweit in Google aufrufbar
(eine verfeinernde Recherche ist geplant) - und den äußerst knappen
Angaben, die Boosey & Hawkes Deutschland zu seiner Geschichte im Inter-
net bereitstellt, eine recht brauchbare datierende Auflistung erstellen.
1949 wurde in Bonn begonnen, eine Boosey & Hawkes-Filiale aufzu-
bauen. Gründer und Geschäftsführer war der Verleger und Sortimenter
Edgar Bielefeldt (1890-1955, Inhaber der Otto Junne GmbH, Musikverlag
und Sortiment) {*1} {*2}. Die deutsche Boosey & Hawkes-Adresse lautet
laut "Tempo" bis mindestens Dezember 1952: Edgar Bielefeldt, Bonn a.
Rh., Hausdorffstraße 1j ("1j" ist möglicherweise ein Scan-Fehler, wird
überprüft). Demnach ging der postalische Weg offensichtlich über Biele-
feldt bzw. dessen Firma, die höchstwahrscheinlich auch ein Musikladen
war. Vermutlich 1953, spätestens 1954 wechselt die Adresse zu "Bonn a.
Rh. [am Rhein], Kronprinzenstraße 26", jetzt wird "Edgar Bielefeldt"
nicht mehr als Stellvertreteradresse angegeben, Boosey & Hawkes handelt
für sich. Noch bis mindestens Dezember 1954 ist bei den beiden frühen
Adressen die Postleitzahl "22c" nachgewiesen, danach fand sich nur noch
"Bonn a. Rh.". 1964 erscheint in meinen Recherchen zum ersten Mal die
Postleitzahl für Bonn: 53. Im Herbst 1975 wird die Kronprinzenstraße zu
Prinz-Albert-Straße umbenannt. Hausnummer und Postleitzahl bleiben
(erste Nennung der Prinz-Albert-Straße im "Tempo" Dezember 1975, in der
Nummer davor, September 1975, noch: Kronprinzenstraße, beachte: die
heutige Kronprinzenstraße hat mit der damaligen nichts zu tun). Was
sich allerdings gemäß den neuen Postrichtlinien der Zeit auch änderte
war die Reihenfolge Ort - Straße: Die Straße erscheint nun vor der
Ortsangabe, also "Prinz-Albert-Straße 26" vor "Bonn". Diese Adreßangabe
galt bis mindestens Dezember 1991 (Heft 179). Offenbar Anfang 1992 kommt
es zu einer räumlichen Veränderung, denn die Adresse lautet jetzt (im
Heft 181 = Juni) "Justus-von-Liebig-Straße 22 / 5300 Bonn 1". Schließ-
lich erfolgte 1997 der Umzug nach Berlin und die Fusion mit dem Verlags-
haus Bote & Bock, Lützowufer 26, 10787 Berlin. Das ist Adresse der deut-
schen Vertretung seitdem (Stand: August 2010). Man erkennt den weitver-
breiteten Zug zum "Zentralmarkt", zur "Zentralstadt" hin: Nach Bonn, von
Bonn nach Berlin.
{*1} Das Wenige, das von Bielefeldts Lebenslauf im Internet erreich-
bar ist, vermittelt den Eindruck, als sei hier eine Ähnlichkeit zu
den typischen Fällen der nach 1945 zahllosen wirtschaftlichen und
politischen "Hemd- und Westenwechsler" gegeben. Allerdings: Ohne
diese Personen - ob sie Mitglieder in "hochkarätigen" nationalsozia-
listischen Vereinigungen und Verbänden wie NSADP, SA, SS, NSD-Dozen-
tenbund usw. oder engagierte Personen in "niederen" wie HJ und DAF,
oder "nur" ehemalige Nazi-Sympthisanten, Altnationale, "Stahlhelme"
und dergleichen waren oder nicht-, ohne sie und ihre tausendfachen
Seilschaften und Netzwerke, in denen sie hinter okkulten Stillschwei-
gebarrieren hantierten, wäre der sogenannte Wiederaufbau nach 1945
samt Wirtschaftswunder nur erschwert möglich gewesen - wenn über-
haupt, auf jeden Fall nicht so zügig. Das waren Macher erster Sorte,
sonst wäre auch der "Macher und Führer" Hitler wirkungslos geblieben.
Das ist eine sehr deprimierende, desillusionierende Wahrheit. Man muß
das aber, das heißt die Rolle dieser "Gründergeneration" (ob in Ost-
oder Westdeutschland), mit Umsicht sehen und tapfer begreifen.
Bielefeldts "Unternehmertum" kann mit den Mitteln des WWW grob um-
rissen werden: 1914, Mitinhaber der Otto Junne GmbH, Musikverlag und
Sortiment, Leipzig (nach dem Zweiten Weltkrieg: Inhaber); 1938 bis
1945, Leiter der Fachschaft Musikverleger der Reichsmusikkammer; 1945
bis 1948, in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) in Leipzig bei der
Aussortierung nationalsozialistischer Musikliteratur an verantwort-
licher Stelle tätig (im SBZ-Jargon wie im "Dritten Reich" kurioser-
und bezeichnenderweise "Säuberung" genannt). Siedelte 1948 in den
Westen über. Ab 1949, B & H-Vertreter in Deutschland; 1951, Mitglied
des Hauptausschusses des Deutschen Musikverleger-Verbandes, schließ-
lich Ehrenmitglied des Deutschen Musikalienwirtschafts-Verbandes.
Bielefeldt sei nach eigenen Angaben nicht in der NSDAP gewesen, vor-
ausgesetzt das stimmt, dann hat diese Aussage allerdings bezüglich
seines Verhaltens damals zunächst wenig bis gar keinen Bewertungsge-
halt. Zur Bedeutung seiner Rolle im "Dritten Reich" dürfte hingegen
ein SPIEGEL-Artikel von 1951 erste Hinweise liefern, denn der unbe-
kannte Autor dieses Beitrags, aus dem das Zitat unten stammt, schrieb
offenbar noch unter den Eindrücken seiner Erfahrung, vielleicht sogar
seiner Erlebnisse, jedenfalls sind seine zeitgeschichtlichen Detail-
kenntnisse beeindruckend.
Nach der STAGMA-Satzung von 1936 (STAGMA ist die Vorläufergesell-
schaft der GEMA) kontrollierten drei Beiräte deren Geschäfte, d.h.
u.a., die "korrekte" Einhaltung und Durchführung der Zwangsmitglied-
schaft sowie die Abwicklung der Gelder. Die Vorsitzenden der drei
Beiräte, "Treuhänder" genannt, waren vom Staat direkt bestellt. Dazu
führt der Autor aus (und es fällt im Zusammenhang mit den drei Nach-
folgebeiräten der GEMA der Begriff "Triumvirat"), die
"Großen Drei" waren damals Werner Egk, Klaus S. Richter und
Edgar Bielefeld (heute Vertreter des englischen Musikver-
lages Boosey & Hawkes Ltd. in Bonn). Egk und Bielefeld ver-
traten die Reichsmusikkammer, Richter vertrat die Reichs-
schrifttumskammer, alle drei waren in der NS-Kulturkammer.
Quellen:
Ohne Autorennennung, Tantiemen, GEMA ist an allem schuld
In: DER SPIEGEL, 4.7.1951 (27/1951, Rubrik: Musik), S. 29-32, Stelle:
S. 30, Fußnote (greifbar im Internet)
Bettina Hinterthür, Noten nach Plan, Die Musikverlage in der
SBZ/DDR - Zensursystem, zentrale Planwirtschaft und deutsch-deutsche
Beziehungen bis Anfang der 1960er Jahre
Stuttgart 2006 (Steiner), 574 S., Stelle: S. 64, Fußnote 65 (greif-
bar in books.google.de)
{*2} Strawinsky kontaktierte Bielefeldt in dessen Eigenschaft als
B & H-Geschäftsführer, und zwar offenbar des öfteren. Da der Kompo-
nist eine Kuklturpersönlichkeit ersten Ranges ist, dürfte die Er-
forschung der Biographie Bielefeldts von Bedeutung sein. So gingen
sicherlich über Bielefeldts Schreibtisch u.a. die folgenden Drucke:
1. Die Erstfassung des Klavierauszugs der Oper "The Rake's Progress",
Copyright 1951. Dieser KlA, zwischen dessen Druck und der deutschen
Erstaufführung unter Ferdinand Leitner höchstwahrscheinlich ein
Zusammenhang besteht (zum Konzertmitschnitt siehe Aufnahmenverzeich-
nis), trägt auf der letzen Seite neben dem Hinweis "Printed in Ger-
many" den Herstellervermerk:
Stich und Druck der Universitätsdruckerei H. Stürtz A.G., Würzburg.
Der Nachdruck vom April 1956 hat demgegenüber dann allerdings den
Vermerk "Printed in England" und weist als Drucker "Lowe and Bry-
done" aus (zu diesen siehe weiter oben).
2. Desweiteren stammt auch der Erstdruck der Partitur der "Revised
1949 Version" des "Capriccio für Piano and Orchestra" aus der Drucke-
rei Stürtz, wie dies auch hier der Eintrag auf der letzte Notenseite
zeigt ("Stich und Druck Universitätsdruckerei H. Stürtz A.G., Würz-
burg."); die Copyright-Angabe für diese "revised version" lautet 1952
(auf Details zu den Drucken und deren Entwicklungen kann hier nicht
eingegangen werden).
Postleitzahlen: Zeitliches Orientierungsmittel
Nach Quellen wie Zeitschriften zusammengestellte Listen - wie oben
geschehen - geben nur in seltenen Fällen exakte Datierungen wieder. Dies
hängt nicht nur mit Nachlässigkeiten, sondern vor allem mit Druck-,
Redaktions- und Erscheinungsterminen zusammen. Wenn möglich sollte man
deshalb, weitere sekundäre Hilfe in Anspruch zu nehmen, als Gegenprobe
sozusagen. Hier bietet sich z.B. ein Überblick über die Geschichte des
Postleitzahlensystems an. Ein Blick in die entsprechende Wikipedia-Datei
macht das deutlich (Stand: Juni 2010).
Postleitzahlen wurden 1941 eingeführt. "22c" stand für das westliche
Rheinland. In den 1950er Jahren hielt man sich jedoch immer weniger an
dieses durch die Nachkriegsereignisse wenig einsichtig gewordene posta-
lische Orientierungsmittel. Die Absender meinten, es ginge auch ohne
solche komischen Postleitzahlen. Zunächst ja, schließlich nicht mehr. Es
kam zu einer Neuordnung des Postleitzahlensystems, sie trat am 23. März
1962 in Kraft. Eingeführt wurden 4-stellige Zahlen, z.B. 5300 für Bonn,
auffüllende Nullen entfielen jedoch, für Bonn galt demnach 53. 1974 aber
wurden die Nullen dann doch verbindlich: 5300 war das Ergebnis. Am
1. Juli 1993 schließlich führte die Post, den Forderungen der politi-
schen "Wende" und der digitalen Entwicklung folgend, 5-stellige Zahlen
ein, deshalb das "53121" auf einer der neueren Bonner Etikettvarianten.
Irgendwelche Widersprüche ergeben sich aus den Zusammenstellungen,
aus dem Vergleich der Adressenliste mit der Postleitzahlenliste, nicht.
Ganz im Gegenteil, es paßt alles recht brauchbar zusammen. "22c" wurde
nach einiger Zeit nicht mehr ganz ernst genommen, somit verschwand es
auch Mitte der 1950er Jahre im "Tempo" aus der Adressenangabe. "53",
1962 eingeführt, taucht bei meinen "Tempo"-Recherchen 1964 auf, und
begegnet einem fortan auch auf Leihmaterial-Aufklebern. Dokumentiert
z.B. auf der Titelseite der Pulcinella Suite"-Partitur "4" (siehe oben)
mit der Adresse "53 BONN 1, Kronprinzenstraße 26". Daß auf Aufklebern
der gesetzlich fällige Wechsel zur 5300 zeitlich ordungsgemäß stattfand,
kann anhand der (bisher) vorgelegenen "Pulcinella Suite"-Partituren
nicht belegt werden, wohl aber beispielsweise mithilfe eines Klavier-
auszugs, der zu einem eingesehenen Klavierkonzert-Mietmaterial-Set
gehörte. Dieser Klavierauszug, versehen mit dem Etikett der Adreßstufe
"Prinz-Albert-Straße 26 · 5300 Bonn 1", stammte aus dem Jahr 1960
(Druckkürzel auf der letzten Notenseite: "2·60 L & B", Erklärung siehe
weiter oben). Es handelte sich deutlich um das Erstetikett und da "5300"
nicht vor 1974 verbindlich wurde und die Umbenennung der Kronprinzen-
straße zur Prinz-Albert-Straße im Herbst 1975 erfolgte, ergibt sich
daraus, daß der Klavierauszug erst spät, wohl als Ersatz, in die Leih-
materialien kam, allerdings sicherlich nicht nach 1992. Denn zum einen
änderte sich Anfang 1992 die Straßenanschrift der B & H-Filiale zu
"Justus-von-Liebig-Straße 22" (siehe oben) und zum anderen wurde im
Juli 1993 die fünfstellige Postleitzahl eingeführt. Dies bedeutet dem-
nach, daß der Aufkleber "Justus-von-Liebig-Straße 22 · 5300 Bonn 1"
auf dem Deckel der "Pulcinella Suite"-Partitur "1" (siehe oben) -
theoretisch gesehen - nur aus der kurzen Zeitspanne 1992 bis 1993
stammen kann. Die Zeit danach bis theoretisch 1997 (Umzug nach Berlin)
deuten dann die Etikette mit "Justus-von-Liebig-Straße 22 · 53121
Bonn" an. Etikette schließlich der Boosey & Hawkes / Bote & Bock-
Variante mit der Adresse "Lützowufer 26 · 10787 Berlin" verweisen auf
den neuen Berliner Standort hin, wobei eine weitere Aktualisierung
dieser Art derzeit wohl nicht zu erwarten ist, weil die Partituren
nicht mehr von Berlin aus verschickt werden. (Nebenbei: Das traditi-
onsreiche Musikladenlokal von einst, Bote & Bock, existiert schon lange
nicht mehr. Es war eine Mekka-Stelle für Musikschürforientierte, weit-
hin bekannt. Die historischen Dämme brechen weg, heute dieser Damm,
morgen jener, überall, das ist eine Auffälligkeit. Wir nähern uns
Millimeter für Millimeter einer Versteppung.)
Weiter oben wurde der Leihbibliotheksstempel angeführt, der die
Postleitzahl "53002" trägt, aufgestempelt war er auf dem Mietmaterial-
Etikett des Deckels der Partitur "1". Er ist ein oder der Nachfolger
des alten, des hergebrachten Stempels der Fassung "53 BONN - 1". Wie
die Postleitzahl verrät, kann er nicht vor der Einführung des fünf-
stelligen Postleitzahlsystems, also vor 1993, existiert haben. Und
in der Tat taucht im von Boosey & Hawkes herausgegebenen Tempo-Heft Nr.
186 (= September 1993) die folgende Adressenangabe auf: D-53121 Bonn 1,
und dazu die "postal address": Postfach 1264, D-53002 Bonn 1. Eigent-
lich war im neuen Postleitzahlensystem die Postamtkennzeichnung "1"
überflüssig geworden, wurde aber in der Übergangszeit vielfach noch
mitgenannt. Der neue Stempel jedenfalls weist sie nicht mehr auf, er
dürfte denn auch erst etwas später entstanden sein. (Nebenbei: Die
Postleitzahl "53002" ist von der Art her keine "geographische" Post-
leitzahl, sie betrifft vielmehr die Postfachabwicklung.)
Man kann also davon ausgehen, daß der neue Stempel "BOOSEY & HAWKES /
Musikverlag / - Leihbibliothek - / Postfach 1264 / 53002 Bonn" theore-
tisch bis 1997 (Wegzug nach Berlin) seine Gültigkeit besaß. Und da er
auf dem Mietmaterialaufkleber der wohl nur 1992 oder 1993 verwendeten
Fassung "Justus-von-Liebig-Straße 22 · 5300 Bonn 1" aufgestempelt war
(und das gleich zweimal), sollte er offenbar der Korrektur dienen,
zumindest der der Postleitzahl "5300" (zur Partitur "1" und zum Link zu
ihr siehe weiter oben).
Die vorangegangenen Aufstellungen, die für manch eine Datierung
hilfreich sein können, geben auch Hinweise darauf, daß die Strawinsky-
Materialien parat sind, am Leihverkehr aktiv beteiligt sind, und nicht
in den Regalen verstauben.
Eine Unstimmigkeit sollte allerdings noch benannt und eine Erklärung
auch gleich angeboten werden: Daß nämlich in der Partitur "4" auf der
Titelseite der Leihmaterial-Aufkleber "Kronprinzenstraße" nicht mit
einem neueren der Adresse "Prinz-Albert-Straße 26" überklebt worden war,
scheint leicht erklärbar zu sein: Die "Kronprinzenstraße" war die ja
gewohnt selbe Straße. Im übrigen sind auf dem Einband Entfernungspuren
deutlich zu sehen. Vielleicht war dort eine derartige Aktualisierung
vorgenommen worden, noch vor der Erneuerung durch den Berliner Boosey &
Hawkes / Bote & Bock-Mietmaterialaufkleber.
Leihmaterial-Aufkleber der Leih-DiPa "4", Titelseite
Frühe historische Fassung: 53 BONN 1, Kronprinzenstraße 26
Datierungshilfe terminus ad quem: 1975
Erststempel (violett) "- Leihbibliothek - / 53 BONN - 1" überklebt
Einst genau so auch auf der Titelseite der Leih-DiPa "1",
Etikett allerdings ersetzt durch das letzte "Bonner Etikett":
Justus-von-Liebig-Straße 22 · 53121 Bonn (1993 bis 1997)
Heftiger Gebrauch
"Nur mit Bleistift" dürften Eintragungen in die Leihpartitur einge-
tragen werden, sagt der Aufkleber (siehe oben). Daran wird sich aller-
dings nicht immer gehalten, Buntstift, Kuli und Tinte: Dirigenten
greifen auch zu solchen Mitteln. Eine weitere Vorschrift ist, auszu-
radieren sei alles vor der Rückgabe. Das aber geschieht, auch diesen
Eindruck gewinnt man sehr fix, so häufig nicht (in manch einem Fall zum
Glück für die Forschung).
Etliche Seiten der "Pulcinella Suite"-Partitur "1" beispielsweise
sind mehr als übersäht mit Eintragungen diverser Dirigenten. Verdeut-
lichungen, Hinweise, Achtungskringel, Ausdruckszeichen und dergleichen.
In vielen Systemen wären neue Eintragungen kaum mehr anzubringen, ja,
manchmal nähert sich die Situation schon dem Zustand, daß der Notentext
im Chaos der Bleistftifteintragungen fast verschwindet. Bei Ausradierun-
gen der eine oder anderen massiven Eintragung war sogar schon der Druck
selbst in Mitleidenschaft gezogen worden.
Notentext, Thema "Werktreue"
Ein ganzes Kapitel könnte musikalischen Eintragungen gewidmet werden.
Besonders interessant sind natürlich Änderungen, hier ist besonders der
Ausdrucksbereich betroffen. Die Skala reicht von Verdeutlichungen (die
nicht in der Partitur stehen) bis hin zu "Verbesserungen", die erst
recht nicht in der Partitur stehen. Nicht selten fragt man sich, was
wohl der Komponist dazu gesagt hätte.
Ein unklarer Notentext allerdings scheint die revidierte Ausgabe der
Suite de Pulcinella nicht zu sein. Die Zahl der "essentiellen" Eintra-
gungen, das heißt solcher, die den NOTENtext an sich betreffen, ist
gering (Weiteres siehe unten).
Besonders aufschlußreich unter den "essentiellen" Eintragungen sind
solche in der Partitur "1", die den Interpretationsbereich betreffen,
und ein paar davon aus der Sinfonia (Ouverture) sollen hier als Bei-
spiele herausgegriffen werden.
Irgendein Dirigent spezifizierte Trillerausführungen, gelegentlich
tritt hierbei noch ein "v. [von] oben" und dergleichen hinzu (viel-
leicht von derselben Hand), siehe das Notenbeispiel 1.
Ein anderer Dirigent (offenbar älteren Semesters, siehe das unten
in der Abbildung das "ū.") schrieb auf der ersten Notenseite (= Seite 3)
oben am Rand hin (die Bemerkung wurde ausradiert, aber die Druckspuren
der Schrift waren noch überdeutlich zu sehen):
(tr~~ ohne Vorschlag ū. ohne Nachschlag!)
♩
(Anmerkung: Hals der ♩ in der Quelle nach unten; in HTML gibt es
für eine Viertelnote leider nur dieses Zeichen, Stand: Juni 2010.)
Damit reagierte der "andere Dirigent" offenbar auf die vorgefundenen
Vorstellungen, wobei er sehr oft an den betreffenden Stellen diese
seine Auffassung noch mit "ohne" oder "ohne/ohne" bekräftigte (jeden-
falls scheint das "ohne" oder "ohne/ohne" und die zitierte Bemerkung
von derselben Hand zu stammen), siehe Notenbeispiele 2 und 3.
Notenbeispiel 1
"v. [von] oben", Vor- und Nachschlag
Barockes Lied- und Arienverständnis
Pulcinella-Suite, Deutsche Leihpartitur "1", Sinfonia (Ouverture),
Soloquintett, Violine I, Takt 2: Dirigentennotiz
Notenbeispiel 2
"ohne/ohne"
Tribut an Werktreue oder die (einstige) Neue Sachlichkeit?
Pulcinella-Suite, Deutsche Leihpartitur "1", Sinfonia (Ouverture),
Orchesterquintett, Violinen I, Ziffer 7 Takt 2:
Zwei Dirigentennotizen
Notenbeispiel 3
Nochmals "ohne"
Abgesang in seligen Terzen
Pulcinella-Suite, Deutsche Leihpartitur "1", Sinfonia (Ouverture),
Oboen I und II, Ziffer 7 Takt 4 (hier, wie zuvor, Seite 9):
Dirigenteneintragungen
Notenbeispiel 3 soll etwas verdeutlichen, was im Kern erst im
nachfolgenden Kapitel "Musikantentum" angesprochen wird. Es wurde
nämlich von irgendjemandem (einem Dirigenten wohl) in der Leih-
partitur "1" die in der Sinfonia schon reichlich vorhandene, ur-
quellenbedingte Terzenparallelität mit weiteren Terzen nachge-
zuckert. Da stellt sich natürlich die Frage nach der Zulässigkeit
derartigen Tuns, oder auch letztlich: was sagt denn das Urheber-
recht dazu? Spitze Fragen, scharfkantig. Vielleicht wäre eine Auf-
fassung geeigneter, wie sie im Kapitel "Musikantentum" zu Wort
kommt, denn Freude am Musizieren und "gegenständlichen" Probieren
ist ein hohes Gut, dem immer das besondere Augenmerk gelten sollte.
Eines aber ist auch klar, es soll nicht bestritten werden, daß die
oben gezeigte "terzenorientierte Klangverschönerung" (die ja nicht
die einzige ist) als grenzwertig aufgefaßt werden kann, um das mal
per Anwaltsdeutsch vorzuformulieren. Wie auch immer, zumindest
scheint sich ein Geschichtsgegensatz aufzutun, den manch einer als
Stilbruch empfinden mag, als da wären (Früh-)Barock, die damit
verbundene Notierungsweise, Aufführungs- und Verzierungslehre auf
der einen Seite und Strawinskys Neoklassizismus bzw. der Bereich
der einstigen "Neuen Musik" auf der anderen. Das klingt in der Tat
nach Dichotomie und somit führt wohl auch kein Weg daran vorbei,
die Einschätzung zuzulassen, daß sich da etwas beißt. In den Über-
legungen hier angekommen, ist es sicherlich am besten, sich die
Sachlage - zumindest im Überblick - etwas anzusehen, wobei im
übrigen schnell deutlich wird, daß eine neutrale Sicht kaum mög-
lich erscheint, man mag es anstellen, wie man will, es entsteht
eine Parteinahme für die "Komponistenversion". Das wird denn hier
auch nicht krampfhaft verhindert.
Wie die obige Abbildung zeigt, sollen die beiden Obeon auf der
Vier, in der Partitur ist ihr Part vom Komponisten als "Soli" her-
vorgehoben, im Terzabstand trillern, das Ergebnis ist vom Hörein-
druck her ein Terzengetriller. So kurz das ist, es ist dennoch
keine unaufällige Nebenbeifärbung. Es ist Teil eines Motivabgangs,
eigentlich ist es ein Motivabgesang. Dementsprechend regte das
wohl zur "Aufbesserung", zur "Abrundung" an, eingebaut wurde, wie
zu sehen, ein Nachschlag, auch in Terzen selbstverständlich, ly-
risch zwar, aber doch ein Schlenker, ein gezierter, aristokrati-
scher Schnörkel, ein Zopf. Und da der "Oboentriller", wie von
einem Klangteppich getragen, durch die Violinen I und II des Solo-
quintetts und des Orchesters sozusagen verdreifacht vorgetragen
wird, wurden, damit alles zusammenpaßt, nach diesem Muster in
jeder Stimme die betreffenden Nachschläge "ergänzt". Alles in
allem also ein munteres Terzenstelldichein. Ein orchestrales Ter-
zen-Belcanto, so kann man das auch nennen.
Wir befinden uns hier am Schluß der Sinfonia-Ouvertüre (in der
Gesamtballettfassung vor dem "Rideau"), und dieser Schluß ist
eigentlich eine Art komponierter Piano-Ausklang, der denn auch in
den Streichern in einem "p sub" endet (so die Partitur, ein Diri-
gent glaubte allerdings in der Leihpartitur "1" auch die Oboen
betont ausklingen lassen zu müssen, er trug eine Decrescendo-
Haarnadel mit einem nachfolgenden "p" ein). Vor dem Schluß nun ist
eine Forte-Stelle, und auch dort ist, wie oben in der Abbildung,
der Motivabgang mit einem Triller geschmückt, wieder in Terzen;
ihn führen sowohl im Soloquintett wie im parallel geführten Strei-
cher-Ripieno neben den Violinen I und II auch die Violen aus. Und
wiederum garnierte der emsige "Bearbeiter" die trillernden Stim-
men, also alle sechs, und zwar so, daß wieder parallele Terzen-
Nachschläge entstehen (Notenbeispiel 2 oben zeigt die Orchester
violinen I).
Ohne jetzt weiter in die Details zu gehen: So ging das auch
schon vorher an den entsprechenden Stellen zu (allerdings ver-
schrieb sich der "Bearbeiter" - dessen Notenschrift ihn übrigens
als Fachmann und Routinier ausweist - in Ziffer 3 Takt 2: über
seinen Nachschlag "d-e" setzte er ein "e-fis" - und diesen Fehler
gleich doppelt, das heißt, in der Violine I des Soloquintetts
ebenso wie den Violinen I des Orchesters).
Der "Nachbesserer" ließ im übrigen nicht nur Triller in Terzen
mit Nachschlägen ausschwingen, auch einfache Trillerstellen be-
diente er damit (dann aber natürlich nicht mit Terzen).
Wie unschwer zu erkennen (oder: zu hören), sollte in die Sin-
fonia so etwas wie ein barockes Element eingeführt werden, doch
genau besehen, steckt hinter dem Vorhaben eher eine "Romantisie-
rung", im Strawinskyschen Konzept - nicht nur der neoklassischen
Epoche - sicherlich ein fragwürdiges Unterfangen, vielleicht sogar
ein Alptraum, mindestens aber dürfte das alles eine Spielart des
Nachkomponierens sein, und damit sind wir auch schon mittendrin
im nicht minder kniffligen Thema des nächsten Kapitels.
Musikantentum
Auch in der Leih-DiPa "4" finden sich derlei eingetragene Zusätze.
Und auch hier sind das meist Eintragungen die letzten Aufführungen
betreffend. Hier und da könnten es aber auch Überbleibsel lang der
Vergessenheit anheim gegebener Ideen, Beobachtungen und Gedankenstützen
sein. Denn auf Folgendes sei hier noch einmal betont hingewiesen: Die
Seiten der alten Leihpartituren "1" und "4" wiesen praktisch überall
massive Radierspuren auf. Was mag nicht alles in, über, zwischen und
neben den Systemen gestanden haben?
Zu den oben angegebenen Verzierungen gehört auch ein in der DiPa "4"
im Scherzino, Ziffer 24 Takt 4, Flöte I, vorgefundener Eintrag: Es war
vor den Triller auf "es" ein eingeschobenes "f"-Achtel als Vorschlag
eingezeichnet worden. Das war in dieser Partitur der einzige nachgetra-
gene Vorschlag, einsam und verlassen, vielleicht ein letzter Zeuge frü-
herer, ausgedehnter Zusatzausschmückungen.
Doch die DiPa "4" hat trotz allem noch einiges mehr zu bieten. Man-
ches davon, wäre vermutlich geeignet gewesen, den Komponisten dazu zu
bringen, in seinem Grab auf der Isola San Michele die klappernde Faust
zu ballen. Dem könnte aber vielleicht begegnet werden, indem man - zu-
mindest gedanklich - für den Fall der Fälle den Votiv- und Gedächtnis-
kieselsteinen auf dem marmornen Grabdeckel vorsorglich einen weiteren
zur Besänftigung hinzugesellt.
Denn dies ist klar: Strawinsky war eigentlich ein Musikant wie er im
Buch steht. Und insofern denkbar weit von der starren Lehre Adornos ent-
fernt, in der Musikanten dumme Leute zu sein haben. Das aber sei dem
Frankfurter Denker ins Philosophicum der Ewigkeit geschrieben: Ohne
Musikanten kein Leben - und auch keine Musik, schon gar keine gute neue.
Abkürzungen für die Oktavenkennzeichnungen (betrifft die beiden
nachfolgenden Aufstellungen)
a2 = zweigestrichenes a
a1 = eingestrichenes a
a = kleines a
A = großes A
K-A = Kontra-A
- III, a) Scherzino, Ziffer 20 Takt 2, Oboe II: Übernimmt Teile aus
Fagott I. Offenbar eine eingerichtete Verdopplung, der einige Bedeu-
tung beigemessen wurde, denn vor dem Seitenwechsel wird mit "Oboe"
die Änderung angezeigt. Die Einrichtung könnte auch aufgefaßt werden
als eine komplette Entlastung des Fagotts von seinen hier als zu dünn
empfundenen Höhen (von der Instrumentation her eine diskutierbare
Stelle, denn es handelt sich um den zweiten Teil des zweistimmigen
Kopfmotivs, dessen Kennzeichen der "paarige" Vortrag ist: Violine I
und II, Oboe I und II, Horn I und II).
- III, b) Allegro, Z 33/1-4, Posaune: Pausen durch die Stimme des
Fagotts II ausgefüllt, d.h. die Posaune wird durch das Fagott II
verdoppelt, so sieht es zumindest aus.
- VI, Gavotta, Z 73/1+2, Oboe II: Soll offenbar die Stimme des Fagotts
II übernehmen, vielleicht aber auch nur eine Verdopplung, Entlastung
jedwelcher Art (siehe auch oben).
- VI, Gavotta, Z 73/10, Fagott II: Übernimmt die Viertel "E, CIS, K-A"
aus der Stimme des Horns II, ist vielleicht als Verdopplung gedacht.
- VI, Gavotta, Variazione IIa, Z 82/1+2: Fagott I übernimmt die Stim-
me des Fagotts II; eine Verlagerung, Vereinfachung offenbar, wenn
auch nicht gerade für das Fagott I.
- VIII, b) Finale, Z 106/7+8, Fagotte I und II: Übernahme der Stimmen
der Hörner I und II, eine Verdopplung vielleicht.
(Notenbeispiele: Tafel 5)
Kurioser Sonderfall
Es war irgendwann und irgendwie ein Saxophon im Spiel, welches der
tiefen davon ist nicht angegeben. Jedenfalls steht in der Gavotta bei
Ziffer 75 vor dem System für die Posaune und bei Ziffer 76 vor dem Sy-
stem fürs Horn II sage und schreibe mit Bleistift geschrieben und ein-
deutig: Sax. Offenbar gab es auch weitere Instrumenationsänderungen, sie
sind aber durch Ausradierung nicht mehr nachzuvollziegen. Musikantentum
hin, Musikantentum her, für diesen Fall wäre wohl ein Votivstein auf
Strawinskys Grabdeckel nötig - vielleicht aber auch nicht.
Druckfehler
Zu ergänzen sind noch einige Notentextverbesserungen. Von denen die
nachfolgend zuerst vorgestellte, deren Berechtigung wohl kaum einer Dis-
kussion bedarf, ausführlich behandelt werden soll. Sie war mit Bleistift
in den deutschen Leih-Partituren "1" und "4" vorgenommen worden. Es han-
delt sich wiederum um eine Stelle in der Sinfonie (Ouverture): In Ziffer
3 Takt 4 ist in den Orchester-Celli das letzte "h" in ein "a" umgeändert
worden, die Celli bilden somit mit den Bässen keine Dissonanz, die bei-
den Stimmen verlaufen nun parallel (zur Partitur "1" siehe die Abbildung
unten; in der "4" war das "h" umkringelt und ein "a" hinzugesetzt wor-
den, daß einer Radiermaßnahme fast ganz zum Opfer gefallen war).
Leider war die mutmaßliche Korrektur, weil so unscheinbar, bei der
Recherche erst sehr spät aufgefallen, so daß außer von den beiden be-
troffenen deutschen Leih-Partituren "1" und "4", nur noch die folgenden
Partituren greifbar waren: Von der Suite de Pulcinella sämtliche unten
angegebenen Taschenpartituren von 1924 an bis zum Exemplar von ca. 1979,
die käufliche Dirigierpartitur des Drucks von 1970, die Partitur im
Sammelband "Ballet Music" von 1999, die Leih-Dirgierpartitur von um
2001, vom Ballett die RMV-Dirigierpartitur von 1924 und die revidierte
B & H-Dirigierpartitur von 1966 (Kauf-DiPa, vermutlich Erstausgabe).
In allen diesen Partituren ist die Druckversion gleich und da der
Notentext der Leihpartitur "printing 2002" reprographisch gewonnen
wurde, dürfte auch in ihr keine Verlagsänderung vorgenommen worden
sein. Man kann also sagen, die Stelle dürfte, 1924 schon so gedruckt,
nach wie vor unverändert sein.
Für einen Druckfehler spricht eigentlich alles. Zum einen gehen die
beiden Fagotte und das Cello des Solo-Quintetts im Einklang mit den
Orchesterbässen und zum andern aber gibt es auch genügend Parallel-
stellen, die problemfrei notiert sind: Takt 3, Ziffer 3 Takt 1 (die
Problemstelle ist die direkte Wiederholung dieser Stelle) und Ziffer 6
Takt 3. Zudem läßt sich auch aus dem Klavierauszug von 1920 kein "h"
ableiten. Eine Verbesserung generell empfiehlt sich allerdings erst
nach der Überprüfung der Pulcinella-Handschrift sowie der Skizzen. Ein
Blick noch in die von Filippo Caffarelli veröffentlichten - jedoch
letzten Endes unmaßgeblichen - "Opera Omnia" Pergolesis (Rom, 1939 ff.).
Auch er verstärkt die Ansicht, daß das "h" ein seit 1924 mitgeschlepp-
ter Druckfehler ist. Leider stand der Mietstimmensatz der Einsicht
nicht mehr zur Verfügung. In einem Stimmensatz der Ballettfassung war
der Fehler allerdings nicht vorhanden (siehe hierzu weiter unten).
Notenbeispiel 4
(Dirigenten-)Korrektur in den Celli (sicherlich zurecht, DP)
Pulcinella-Suite, deutsche Leihpartitur "1",
Sinfonie (Ouverture), Ziffer 3 Takt 4
(Handschriftlich korrigiert auch in der Leihpartitur "4", aller-
dings wieder ausradiert; bei zwei weiteren eingesehenen neueren
Leihpartituren im Einsatz NICHT korrigiert.)
Weitere mutmaßliche Druckfehler bzw. Problemfälle sind durch Korrek-
turen in der Leihpartitur "4" aufgefallen (es werden hier bis auf eine
Stelle keine Aufführungsanweisungen, Tempovorschriften usw., sondern nur
Tonhöhenfehler bzw. NOTENfehler angeführt).
Hinweis: Abkürzungen für die Oktavenkennzeichnungen siehe oben
- III, Più vivo, Z 28/4, Solo-Violine I: Die Folge (8va alta) "a2 - d2
- a1 - e2" ist in der Leihpartitur "4" zu "a2 - e2 - a1 - e2" "korri-
giert" worden (jedoch Ballett, "Revised Edition 1965", Z 21/4, wie
"unkorrigiert", ebenso RMV-Ballett und -Suite 1924). Von einem offen-
bar anderen Dirigenten stammt eine Anmerkung, die wie "oui" aussieht
(jedenfalls nicht wie "non"). {*1}
Beachte: Im KlA (Chester 1920, Notentext bis heute unverändert, S.
12) ist die Notenfolge wie "unkorrigiert" wiedergegeben.
- III, b) Allegro, Z 29/3, Flöte I: Die Notenfolge "a2 - e2 - e2" könn-
te, wie "korrigiert", durchaus "a2 - e2 - a1" lauten, die Logik der
Linie und des Partiturzusammenhangs ließen die Interpretation zu. Die
gedruckte Fassung war allerdings nie anders, sie besteht in der Suite
seit 1924 (steht so aber auch im Ballett, Z 22/3, sowohl in der RMV-
wie in der revidierten B & H-Ausgabe).
Beachte: Nach dem KlA (S. 12) ist keine Entscheidung möglich, denn
der Takt Z 29/3 gehört zu vier Takten, in denen die rechte Hand in
jedem der vier Takte den gleichen Inhalt hat, und dieser ließe sich
z.B. auch wie folgt umsetzen: Flöte I "a2 - e2 - e2", Solo-Violine I
"a2 - e2 - a1", Solo-Violine II, wie jetzt auch, dementsprechend an-
gepaßt. Wie der in Frage stehende Takt in der Partiturreinschrift
lautet, ist nicht bekannt, doch ist damit zu rechnen, daß die ge-
druckte Partiturumsetzung eine nicht hinterfragbare, klangbezogene
Komponistenentscheidung wiedergibt.
- III, b) Allegro, Z 40/5+6, Solo-Violoncello: Vor den 4 Achteln dürfte
die Anweisung "pizz." fehlen (aber in der Ballettfassung "Revised
Edition 1965", Z 33/5+6, und auch schon in den RMV-Originaldrucken,
Ballett-Gesamtfassung sowie Suite, steht ebenfalls kein "pizz.").
Eine offenbar zweite Hand hat die Ergänzung "pizz!" mit "oui" bestä-
tigt.
Beachte: Im KlA (S. 16) stehen im gesamten Kontext keine Staccato-
punkte.
- III, c) Andantino, Z 46/4, Horn II: Das Intervall geschrieben "fis1 -
e1" sollte "fis1 - d1" lauten. Eine andere Hand setzte neben die
Korrektur "ré ?". (Ballett "Revised Edition 1965", Z 39/4, hat auch
"fis1 - e1"). RMV 1924: Im Ballett und in der Suite steht "richtig":
fis1 - d1 (klingend "h - g").
Beachte: Auch der KlA (S. 18) hat "h - g".
{*1} Für eine Diskussion der in dieser Liste erwähnten RMV-Ausgaben-
stufe von 1924 (Dirigierpartitur der Ballett-Gesamtfassung und der
Suite), ihrer sogenannten Notentexttreue also, ist hier nicht der
Platz. Damit beschäftigten sich, zumindest mit einigen Aspekten
dieses Gebietes, spezielle Studien bzw. Kapitel. So mag in dieser
Fußnote der Hinweis genügen, daß die traditioneller Weise urkundlich
wohl als bedeutsam empfundene RMV-Partitur der Ballett-Gesamtfassung
leider zahlreiche Fehler enthält, gravierende, aber auch ganz un-
scheinbare. Zwei der unscheinbaren Art seien hier, als Vorgeschmack
sozusagen, genannt:
II, Serenata, Z 1 und 2, Flöte I: Die Haltebögen sind zu streichen.
Wie sollte man denn auch diese fragwürdige Phrasierung ausführen? In
der "revidierten Edition" von 1965 sind die Bögen weggefallen. Aber
in der Ouverture Z II/1 im Horn I steht sie noch, sowohl 1924 wie
auch 1965. Deshalb fragt man sich, was der Komponist mit dieser blas-
technisch unbestimmten Anweisung erreichen wollte. Bei der Blockflöte
allerdings wäre vielleicht in etwa ein "da ... ha" denkbar. (Diese
fehlerhafte Stelle gehört zu einem Gesamtkomplex, siehe dazu auch
weiter unten "Nebenkopist Ia..." und die dazugehörige Abbildung "Ver-
wechslung mit Folgen")
II, Serenata, Z 8/2+3, es fehlt das System des Tenors und somit das
in diese Takte hinein lang ausgehaltene "c". Der Fehler wurde im
Druck der 1965er Fassung korrigiert.
Was sagt zu all den berichteten Änderungsfällen die Aufnahmenszene?
Sie sagt: Stoff für knifflige diskographische Abhörsitzungen. Man achte
auch auf Änderungen, wie sie oben unter "Musikantentum" zu finden sind,
denn situationsbedingte Änderungen sind immer einzukalkulieren. Zu wei-
teren möglichen Stolpersteinen siehe weiter unten unter "Ein einsames a-
Einsprengsel..." (dort auch das Notenbeispiel 8).
Anmerkung zu den neuesten Leihpartituren
Die "2002 printing" (siehe oben die Abbildung) ist eine großformatige
Partitur (ca. DIN A3) mit einem spiralgebundenen hellblauen Einband
(Maße ohne Spirale: ca. 29,7 x 42 cm). Sie hat zwar eine Titelseite (=
Seite [1]) - deren Bedruckung exakt dem Deckblatt entspricht -, die
Rückseite aber ist unbedruckt, d.h., es fehlt die gewohnte Seite [2] mit
der Satzaufstellung ("Table des Matières") und den Besetzungsangaben
("Orchestre"). Ob nach diesem Druck noch eine weitere Ausgabe erstellt
wurde, ist nicht bekannt. Eher nicht (Wissensstand: Juni 2010). Das Her-
stellungsland ist eindeutig England, allein der Hinweis "2002 printing"
deutet darauf hin, aber auch auf der ersten Notenseite (= Seite 3) zum
einen die eingerahmt aufgedruckte Warnung: "IMPORTANT NOTICE: The un-
authorised copying of the whole or any part of this publication is
illegal.", und zum andern natürlich der Vermerk "Printed in England".
Ein spezifischer Druckervermerk, auf der letzten Notenseite etwa, fehlt
allerdings, und das ist kein Wunder, denn der Notentext wurde offen-
sichtlich durch reprographische Vervielfältigung gewonnen, Grundlage:
Fotokopie (weitere Einzelheiten zu dieser und der nachfolgend beschrie-
benen Partitur siehe weiter unten in der Ausgabenauflistung).
Die Partitur gehört der hellblauen Leih-Partiturenserie an, die
offenbar ums Jahr 2000 begonnen wurde und zahlreiche Komponisten und
Werke umfaßt. Die weitaus meisten sind, soweit bisher gesehen, spiral-
gebunden, haben ein ganz ansprechendes Außen-Layout, wobei die "Pulci-
nella Suite"-Ausgabe graphisch besonders gelungen erscheint. Die spi-
ralgebundenen Partituren sind befriedigend blätter-, aber wenig belast-
bar, d.h., sie sind nicht sehr strapazierfähig, jedenfalls keinesfalls
so widerstandsfähig wie das beispielsweise die deutschen fadengebundenen
Partituren waren (und noch sind). Da aber die Herstellung mittlerweise,
soweit möglich, auf der Fotokopie-Grundlage erfolgt, verspricht man sich
mit der Spiralbindung wohl geringere Bereitstellungskosten.
Der Vorgängerdruck, hergestellt um 2001, ist kleiner, ebenfalls Spi-
ralbindung (Maße ohne Spirale: ca. 25 x 35,2 cm), mittelblauer Einband,
die Seiten [1] und [2] fehlen. Die Partitur weist also nur den (wie
immer unveränderten) Notentextkorpus auf (Seite 3 bis 76). Der Einband
ist unbedruckt, es handelt sich also um ein "Etikett-Layout". Auch bei
dieser Partitur wurde der Notentext reprographisch erstellt (per Foto-
kopie), wobei aber das Notenbild an Klarheit und Schärfe zu wünschen
übrig läßt. Die Partitur dürfte ebnefalls in England "gedruckt" bzw.
hergestellt worden sein. Viele Einzelheiten sprechen deutlich dafür. So
auf auf der ersten Notenseite (= Seite 3) die oben zitierte Warnung und
der Hinweis "Printed in England". Doch all das kann auch anderswo einge-
baut worden sein (denn es liegt offenkundig eine automatische Übernahme
vor). Diesen Einwand entkräftet aber ein gewichtiges Detail: Das vorlie-
gende Exemplar hatte nämlich ein aufgeklebtes Etikett mit den Werkan-
gaben, das gedruckt die vollständige Londoner Boosey & Hawkes-Adresse
aufweist (siehe unten die Abbildung). Außerdem steht auf dem Etikett
"Full Score" und eine englische Leihmaterialkennzeichnung "Set 92".
Schließlich befindet sich auf der ersten Notenseite auch die neue neue
Copyright-Angabe (hierzu siehe nachfolgend). Somit kann eigentlich kein
Zweifel bestehen, daß die Partitur aus dem englischen Haus stammt (Wei-
teres siehe unten in der Ausgabenaufstellung), auch wenn auf der ersten
Notenseite der rote deutsch-englische Stempel "LEIHMATERIAl - HIRE COPY"
vielleicht in eine andere Richtung deuten könnte. Die Partitur hatte
übrigens unten auf dem Deckblatt auch einen (deutschen) "MIETMATERIAL"-
Aufkleber, und zwar den, den, wie weiter oben beschrieben, auch die
1970er Partitur "4" zum Zeitpunkt der Einsichtnahme (2010) auf dem
Deckel hatte: Boosey & Hawkes / Bote & Bock / Lützowufer 26 / 10787
Berlin". Das eingesehene Exemplar des Drucks von 2002 wies demgegenüber
keinen solchen Hinweisaufkleber auf, weder außen (siehe oben die Abbil-
dung) noch innen.
Zur Datierung "um 2001" dieser Partitur: Auf dem Aufkleber ist als
Adresse "295 Regent Street, London, W1B 2JH" angeben. Da der Post Code
"W1B 2JH" im Juni 2000 eingeführt wurde (siehe Internet: Wikipedia "W
postcode area" und die Seite "Royal Mail major recode historical infor-
mation", eingesehen 21.5.2013) und auf der ersten Notenseite einer hand-
schriftliche Eintragung, vermutlich eines Dirigenten, die Jahreszahl
2002 beigefügt ist, scheint es angebracht, eine Datierung der Partitur
auf "um 2001" anzunehmen.
Die angesprochene eklatant ungewöhnliche Copyright-Abänderung auf der
ersten Notentextseite zu "© Copyright 1924 by Hawkes & Son (London)
Ltd.", die die beiden mutmaßlich neuesten Leih-Dirigierpartiturausgaben
der Pulcinella-Suite haben, taucht, soweit dieses Werk betroffen ist,
offenbar zum ersten Mal in einer käuflichen Partitur auf, und zwar in
der Tripel-Ausgabe "Ballett Music" von 1999 auf (hierzu siehe weiter
oben).
Full, but incomplete
"Stravinsky / Pulcinella Suite / Full Score"
Leih-Dirigierpartitur um 2001, aufgeklebtes Etikett
Stimmenmaterial: Einführung samt einer Abschweifung
Ein wesentlicher Teil jeder Mietmaterialverschickung bildet das
Stimmenmaterial. Dasjenige, das, wie weiter oben ausgeführt, 2010 für
eine Konzert- und Rundfunkproduktion ausgeliehen worden war, und dem
die vier beschriebenen Partituren beilagen, konnte aus zeitlichen
Gründen nicht näher eingesehen werden. Auch ist eine Untersuchung
nicht immer so interessant, wie man vielleicht glauben mag. Und in der
Tat schienen mir die Stimmen - einige Notentextunsicherheiten in den
Partituren waren leider zu spät entdeckt worden (siehe oben) - nicht
sehr aufschlußreich gewesen zu sein. Doch soll bei Gelegenheit ein
Materialfall herausgegriffen werden, bei dem es einiges mehr zu
beobachten gab. Es handelt sich hierbei um einen Stimmensatz der
"Symphony of Three Movements", der unter der Leitung des Komponisten
im Einsatz war.
Durch Untersuchungen dieser Art erhält man gelegentlich auch eine
Ahnung von Situationskomiken mitgeteilt, und ein solcher Humor - er
bezog sich auf Strawinskys Nase - befand sich in dem genannten Stim-
mensatz unter den Einzeichnungen der Orchestermitglieder und sei
hier nebenbei zur Auflockerung angedeutet. Aufmerksamkeit bei Orche-
stermitgliedern hin, Aufmerksamkeit her, zumindest ein Mitglied
schien an Strawinskys Nase ganz besonders seine helle Freude gehabt
zu haben. Danach zu urteilen, wäre I.S.'s Nasenteil in der Tat ein
Etwas seltener Ausgestaltung gewesen, oder anders gesehen, je nach
Sitz- oder Blickwinkel zumindest ein Objekt zeichnerischer Talent-
darstellung.
Mit der Nase hatten übrigens einst die Nazis ein großes Problem.
Schon philologisch (weil angeblich ein lateinisches Fremdwort, dazu
noch mit verquerer Geschlechtsverschiebung), so daß damals allen
Ernstes Bestrebungen in Gang kamen, sie nach altdeutschen Vorschlä-
gen aus Anno-Tobak-Kaiserzeiten in Gesichtserker umzubenennen, des-
weiteren vor allem aber im Rahmen ihres Rassenwahns, der bezüglich
Strawinskys Gesichtszierde offenbar den Grund dafür geliefert hatte,
den sehr auftrittsorientierten Komponisten dazu zu bringen, sich
letztlich bemüßigt zu fühlen, bei Verwaltungshütern des "Dritten
Reichs" zu protestieren und klarzustellen, er sei arischer Abstam-
mung. Ein Schicksal, daß auch Charles Aznavour ereilte, wie er auto-
biographisch mitteilt, denn offenbar war auch sein "Erker" etwas
ausgiebiger gestaltet, als Fotos das ahnen lassen. Und so hatte der
armenisch-französische Chansonnier in Paris während der Wehrmachts-
okkupation, als auch er "anerkete", ebenso das besagte leidige wie
unsinnige "Nasenproblem" per Einspruch zu lösen.
Nach diesem ablenkenden Ausflug in die (eigentlich gar nicht spaßi-
ge, eher grotesk-bizarre) Gesichtserkersphäre wieder zurück zum brot-
trockenen Dokumentationsalltag:
Leihmaterial, auch Mietmaterial genannt, besteht im allgemeinen aus
einer Partitur und den Orchesterstimmen. Je nach Werk wird dieses
Editionsduo noch ergänzt, beispielweise durch eine Solostimme, einen
Klavierauszug oder auch eine Studienpartitur. Ein Klavierauszug dient
beispielsweise in Strawinskys Capriccio oder Klavierkonzert als Solo-
stimme, wobei die "Réduction" für zwei Klaviere eingerichtet ist, das
heißt, daß die Werke im Grund auch nur von einem Klavierduo aufgeführt
werden können. Es wird heute erstaunen, aber Strawinsky hat derglei-
chen in früher Zeit praktiziert. Der Komponist hat also diese Doppel-
gleisigkeit, Orchesterwerke auch als Klavierwerke zu spielen, als
Option selbst angeboten. Musiker-Komponisten sind in der Regel ein-
fallsreicher als sture Werktreue-Päpste (was immer auch Werktreue
bedeuten mag).
Sehr oft enthält das Leihmaterialpaket allerdings nicht nur eine
einzige Partitur, sondern zwei, oder sogar vier, wie es hier der Fall
war, der die Möglichkeit eröffnete, diesen Aufsatz zu verfassen. Eine
solche Mehrfachlieferung hängt mit dem Aufführungszweck zusammen, wenn
z.B. Tontechnik, Tonmeister und/oder Regie Extraexemplare benötigen,
so bei Veranstaltungen wie Studioaufnahmen und Konzertaufzeichnungen
für Rundfunk und Industrie.
Ganz besonders mitteilungsreich sind selbstverständlich Partituren,
mit denen der Komponist arbeitete, das aber waren meist keine Leih-
partituren, sondern seine eigenen, seine Handexemplare. Und wie sich
jeder denken kann, insbesondere nach der Lektüre dieses Beitrags, ha-
ben diese im Rahmen der KRITISCHEN Quellenarbeit einen hohen Stellen-
wert, der unter keinen Umständen zu unterschätzen ist. Ich würde sogar
soweit gehen, zu behaupten, daß die Strawinskyschen Handexemplare
wichtiger sind als seine originalen Handschriften. Eine ähnlich hohe
Dringlichkeitsqualität haben auch Parituren, die in den Händen quali-
fizierter Dirigenten waren (solchen mit guten Ohren und dokumentari-
schem Gründlichkeitssinn). Sicherlich sind auch Stimmensätze eine
wichtige Quelle, aber ihre Existenz ist meist ephemer (begrenzte
Lebensdauer), zudem sind die in ihnen eventuell festgehaltenen hand-
schriftlichen Zusatzeintragungen (Nachbesserungen) sehr dem "Verfall"
ausgeliefert (Ausradierungen, Überschreibungen, Schwärzungen usw.).
Zum Stand Pulcinella-Suite Editorisches siehe Abteilung 4
Weiter
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