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Nochmals K. 2002: Ein Titel - was ist das? (I)
Da ich derzeit ständig mit dem Verzeichnis K. 2002 zu tun habe, möch-
te ich auf der Grundlage meiner bisherigen Erfahrung noch auf eine, wie
mir scheint, ganz besonders lästige Schwachstelle dieses Buches hinwei-
sen. Es ist doch sicherlich klar: Der Brauchbarkeitswert eines vom
Anspruch her sichtenden, Grundlagen vermittelnden, also wissenschaftli-
chen Verzeichnisses musikalischer Werke hängt schon - sozusagen auf der
untersten Dokumentationsstufe - sehr von der Qualität der genauen, der
kritischen Darstellung (und wenn nötig auch der Diskussion) der Titelge-
bungen ab. Schlankweg gesagt: Mit den Titeln fängt alles an. Mit was
sonst? Nun ist es so, daß, soweit Titelgebungen (Werk-, Satz-, Szenen-,
Liedtitel und dergleichen) betroffen sind, in K. 2002 zumindest schon
mal auf der bloßen Wiedergabeseite manches Richtige abgedruckt ist;
vielleicht ist auch mehr richtig, als es derzeit den Anschein hat,
abschließend ist das noch nicht zu überblicken. Wie auch immer, präzise
Titelangaben, sichere Informationen, das erwartet man von einem derar-
tigen Werk; eigentlich ist das eine solche Selbstverständlichkeit, daß
wohl kaum jemand darüber nachdenkt, es könnte vielleicht nicht so sein.
Versäumnisse auf diesem Gebiet kommen aber vielfach vor, man schaue sich
nur richtig um! In K. 2002 beispielsweise herrscht, wie es bis jetzt
aussieht, dem Darstellungskomplex "Titelgebungen" gegenüber allein schon
methodisch wohl durchgehend eine derartige Laxheit, Unbedarftheit oder
Zufälligkeit vor, daß man es fast nicht glauben kann. Wer grundlegenden
dokumentarischen Arbeitsweisen mit Interesse gegenübersteht, wird hier
einer fast nicht endenden Geduldsprüfung unterzogen. Das ist leider so,
da gibt es nichts zu beschönigen. Die Zahl der bislang entdeckten Män-
gelfälle ist immens (es sind einfach VIEL zu viele), und oft genug kann
von Urkundennähe, geschweige denn von Urkundentreue, überhaupt nicht
mehr die Rede sein. Ich habe oben in "K. 2002: der Élégie letzte Stro-
phe" im Zusammenhang mit der Kritik an den wiedergegebenen Titelgebungen
des Feuervogel-Balletts und der 1911er Suite daraus das Wort "kunter-
bunt" gewählt. Im Grunde drängt sich diese oder eine ähnliche Charakte-
risierung (zum Beispiel auch "chaotisch") im Bereich "Titelgebungen", ob
man will oder nicht, immer wieder auf. Je genauer man hinsieht, umso
mehr trifft man auf Ecken und Kanten, auf Ungereimtheiten, auf Unbrauch-
bares. Allein Eigenabfassungen (insbesondere Übersetzungen) gibt's
zuhauf; man begegnet ihnen überall, auch in den (grundlegenden) Titel-
vorspännen, und sie sind dort, man nimmt es mit Erstaunen wahr, offenbar
nie also solche ausgewiesen. In anderen Titelgebungsbereichen scheint
die Lage durchgängig ähnlich zu sein. Zu Übersetzungen ist generell zu
sagen, es ist natürlich sehr lobenswert, sie anzubieten, nur wenn man
sich dazu entschließt, muß auch über die Herkunft Klarheit herrschen.
Häufig genug gähnt einen auf dem Gebiet "Erfassungsobjekt Titelgebung"
aber auch Schweigen an. Und gar nicht so selten spürt man: es ist ein
vornehm-taktisches Schweigen. Wie dem auch ist, ich empfand es bislang
immer als ein Wunder, wenn sich bei einer Titelrecherche keine Probleme
auftaten.
Was soll man also zur Gesamtsituation "Titelgebungen" sagen, wenn
angesichts einer solchen Dokumentation oder Nichtdokumentation selbst
das Zutreffende nicht mehr genügend Sicherheit vermitteln kann? Ja, so
ist es: Ein Gefühl der Verunsicherung beschleicht einen; mich verläßt es
eigentlich nie. Also heißt die ständige Devise: K. 2002 bedarf (zumin-
dest auf dem Gebiet "Titelgebung") überall und immer der Nachprüfung.
Ist das der Sinn eines Werkverzeichnisses? Kurzum: Wer in Sachen Titel
verläßliche, philologisch definierte und abgesicherte Informationen
benötigt (also schon mal das: was stammt vom Komponisten und was nicht,
was steht in den Noten und was nicht?), muß die entsprechenden Materi-
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alien und Unterlagen haben, oder sie sich besorgen, doch da kann's im
Normalfall eng, SEHR SEHR eng werden. Und eben deshalb wäre ein dement-
sprechend urkundenorientiertes, berechenbares Nachschlagewerk sehr
vonnöten. Stattdessen kommt man sich bei K. 2002 wie am Roulette-Tisch
vor.
Hierzu ein Beispiel. Ich wähle den Titelvorspann von Pulcinella. Man
könnte auch, wie mir scheint, jeden anderen etwas umfangreicheren Titel
oder Titelgebungsbereich herausgreifen. Die Wiedergabe unten entspricht
genau der Darstellung in K. 2002. An diesen Vorspann schließt sich ein
Kommentarteil an, aus dem ohne Umschweife ersichtlich wird, wie stoff-
lich eigenwillig, wie wenig sorgfältig und hilfreich in K. 2002 das
eminent wichtige Gebiet "Titelgebung" angegangen wurde.
- 34 -
P u l c i n e l l a
[Suite italienne°]
Ballet avec chant en un tableau. Musique d'Igor Strawinsky, d'après Giambattista
Pergolesi. - Pulcinella. Ballett mit Gesang in einem Akt von Igor Strawinsky
nach Musik von Giovanni Battista Pergolesi - Pulcinella. Ballet in one act
with three solo voices. Music by Igor Strawinsky after Giambattista Pergolesi
- Pulcinella. Balletto in un atto per piccola orchestra con tre voci soliste
su musica di Giovanni Battista Pergolesi
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Kommentar
Vorbemerkung: Bei der Wiedergabe der jeweiligen in Druckform vorlie-
genden Titelgebung wurde eine Nachahmung der Anlage (Großschreibung,
Layout, Schriftbild usw.) nicht angestrebt, auf Zeilenumbrüche bzw.
"Layout-Absätze" oder "Layout-Sprünge" wurde nur bei Bedarf geachtet
(Zeichen: / = Zeilenumbruch, // = Layout-Sprung). Demgegenüber dürfte
aber wohl in einer dokumentarischen Werkdarstellung die exakte bzw.
einfühlend sich annähernde Wiedergabe der Anlage unumgänglich sein (im
"kritischen Bericht" etwa, eventuell Scan). Es wurden zudem nur solche
Ausgaben und Stellen angeführt, die hier für den Zweck "Titelvorspann
Pulcinella in K. 2002" wirklich relevant sind.
[Einschub Juli 2007: Ein paar einführende Hinweise zur unten erwähn-
ten originalen Dirigierpartitur (DiPa) des Russischen Musikverlags
(RMV). Soweit bekannt, war diese mit dem Copyright 1924 versehene RMV-
Partitur des Gesamtballetts nie in den Verkauf gelangt, auch eine Ta-
schenpartitur gab es nie. Somit also wohl ein klassischer Fall strenger
Leihmaterial-Praxis, die im Bereich der Orchester- und Bühnenmusik ein
weit verbreiteter Usus ist. In einigen RMV-Fällen befand sich aber
zumindest eine Studienpartitur im Verkaufssortiment (prominente Beispie-
le: Pétrouchka, ohne Copyright-Angabe; Le sacre du printemps, Copyright
1921 [Fassungen 1921 und 1929]; Suite de Pulcinella, Copyright 1924).
In den Anfangsjahren des RMV waren übrigens sehr viele (wenn nicht alle)
Dirigierpartituren käuflich zu erwerben; so wie es scheint, Pétrouchka
beispielsweise (1912).
Bloße Druckauflagen (Nachdrucke) von Partituren können auch bei
(scheinbar) unverändertem (oder unausgewiesen verändertem) Notentext
durchaus unterschiedliche "Rahmengestaltungen" und Begleitinformationen
aufweisen. Wie auch immer: Es ist jedenfalls sinnvoll, bei dokumenta-
rischen Bezugnahmen, insbesondere bei Leihmaterial, beschreibende
Kennzeichnungen anzustreben. Bei Leih-Partituren nur die, wenn überhaupt
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vorhandenen, gestempelten oder handschriftlichen Numerierungen eines
Leihsatzes (Partitur plus Stimmen) anzugeben, reicht im allgemeinen
nicht aus, weil Leihmaterial samt seiner Numerierung sehr vergänglich
ist, zumal Numerierungen auf nachfolgende Partituren und Sätze übertra-
gen werden können. Doch so überaus ephemer derlei Leihpartituren auch
sein mögen, sie sind, zumindest wenn es sich um Erst(ab)fassungen und
Erstdrucke handelt, bei Komponisten der "neueren Zeit", wie Strawinsky
eben einer ist, ein wichtiges (ein überhaupt nicht zu unterschätzendes)
Nachweis- und Forschungsfeld. So scheint z.B. dasjenige Exemplar der
originalen Pulcinella-Ballett-Dirigierpartitur, auf das in der nachfol-
genden "Titelanalyse" Bezug genommen wird, recht informativ zu sein.
Eine Kennzeichnung ist allerdings nur umständlich möglich, da die
Partitur kaum etwas Auffälliges an sich hat. Dennoch soll eine Kurzbe-
schreibung, die eine Identifikation auf den ersten Blick ermöglichen
könnte, wenigstens versucht werden. Ob die Partitur allerdings noch
existiert, ist eine andere Frage. Gegen 1980 jedenfalls existierte sie
noch, doch waren die Spuren starker (Ab-)Nutzung nicht zu übersehen
(Bindungslockerungen, Klebestellen). Etwas Fernerstehende sollten keinen
falschen Vorstellungen nachhängen, man kann es nicht oft genug betonen:
Leihmaterial wird im Nutzungsfall nicht unbedingt mit Glacé-Handschuhen
angefaßt, Verschleiß und Verlust sind einkalkuliert. Doch wird so
manches, das das Ende eines strapaziösen "Leihlebens" erreicht hat,
persönlich gehütet, wie lange aber? Das ist die Frage. Doch wo wäre die
dokumentarische Urgrundkultur ohne persönliches Engagement?!
Jedenfalls war (hoffentlich: ist) die Dirigierpartitur, von der hier
die Rede ist, nicht nur ein Zeitzeuge, sie lag auch allem Anschein nach
in der Tat in der "alten RMV-Zeit" (also bis etwa zu Beginn des Zweiten
Weltkriegs) auf den Pulten, und zwar im Rahmen des Leihverkehrs (auch)
auf deutschen. Sie kam dann wohl bei der Übernahme des RMV durch Boosey
& Hawkes (1947) nach England und erhielt dort auf dem Frontumschlagblatt
("Deckblatt") zwischen "PARTITION D'ORCHESTRE" und "ÉDITION RUSSE DE
MUSIQUE" den ovalen Stempel der Boosey & Hawkes Hire Library. Sie weist
aber auch den RMV-Stempel "Unverkäufliches Leih-Material / Eigentum des
Verlegers." auf, und zwar gleich dreimal: auf dem Deckblatt, der Titel-
seite und der ersten Notenseite (S. 3). Außerdem schrieb jemand auf der
ersten Notenseite links über dem Notentext in lateinisch-Süterlinscher
Mischschrift "Vorhang richten" hin (was das genau heißen soll, ist
allerdings ein Rätsel).
Darüber hinaus hat die erste Notenseite auch den Notentext betref-
fende handschriftliche Eintragungen, die gar nicht so uninteressant
sind. Zum einen die Metronomangabe "[Viertel oder Zustimmungshaken?] =
80" und zum andern ein "m" vor dem "f" aller Bläserstimmen, Ergebnis:
"mf" (wie die Eintragungen aussehen, macht die Abbildung auf Pulcinella/
Tafel 1 klar).
Erstaunlich ist die Metronomangabe, sie muß wohl vor dem Erscheinen
der neuen ("reviderten") Partitur von 1966 ergänzt worden sein! Anders
kann man sich das nicht so recht vorstellen. Denn welchen Sinn hätte es
gehabt, in die alte DiPa eine Neuerung der neuen einzutragen, da doch im
Regelfall mit dem Erscheinen einer als revidiert gekennzeichneten neuen
DiPa ältere Ausgaben aus dem Leihverkehr ausgeschieden werden. Doch kann
die Angabe auch von der schon 1949 erschienenen revidierten Orchester-
suite herrühren, diese hat nämlich schon Metronomangaben. Und das wird
höchstwahrscheinlich der Weg gewesen sein. Allerdings sollte der Voll-
ständigkeit Folgendes hinzugefügt werden: Der Notentext der Partitur
der Orchestersuite von 1949 wurde, ein anderer Schluß ist kaum möglich,
drucktechnisch, so weit es möglich war (die Ouverture zählt dazu), in
die revidierte 1966er Ballettpartitur übernommen. Wie bitte? Ja! Aber in
diesen Orkus wollen wir jetzt nicht krabbeln.
Fragen wirft auch die Korrektur zu "mf" auf. In der "revidierten"
DiPa steht (weiterhin) "f". Für die Einleitung wäre es aber im Verhält-
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nis zum "f" der Streicher orchestral sinnvoller, den Bläsern (zumal den
beiden Hörnern) ein "mf" vorzuschreiben. So verfährt in etwa auch viel-
fach die Praxis (lyrische Auffassung des "Allegro moderato" und des
Pergolesi-Stils). Aber der Wille des Komponisten wollte offenbar ein "f"
in allen Stimmen und damit hat man sich im Sinne des Komponisten ausein-
anderzusetzen, auch wenn's einem als entbehrlich vorkommt.
Zurück zur Kennzeichnung des Partitur-Exemplars: Die letzte Seite der
DiPa (S. 154) hat keinerlei Druckvermerke, allerdings wären solche Hin-
weise für eine nähere Bestimmung ohnehin nur wenig tauglich. Für eine
Auflagenbestimmung sind sie allerdings sehr nützlich. Auch von der Plat-
tennummer (R. M. V. 410) läßt sich nichts Spezifisches ableiten. Das-
selbe gilt wohl auch von der hinteren Umschlagseite, dort ist eine RMV-
Reklame abgedruckt: Les œuvres d'Igor Strawinsky (in Großbuchstaben,
Copyright-Stand: 1922, Druck-Stand: 1924, möglicherweise [Strawinsky-]
Annonce "No 1."). Das Vorhandensein dieser Anzeige legt den Schluß nahe,
daß ursprünglich der Plan bestand, die Partitur dem Verkauf zuzuführen,
eventuell als Taschenpartitur, so wie bei der Suite de Pulcinella pour
petit orchestre in der Tat geschehen (als "Partition d'orchestre" /
"Format de poche").
Weiter unten wird unmißerverständlich moniert, daß in frühen Ausgaben
bei beiden Fassungen der Suite italienne (für Violoncello und Klavier =
"Piatigorsky-Fassung", für Violine und Klavier = "Dushkin-Fassung") die
Angabe des Ur-Urhebers fehlt, dem damaligen Wissensstand zufolge hätte
also "Pergolesi" genannt werden müssen. Dieses Manko besteht bei der
hier angeführten DiPa nicht. Es wird nicht nur auf "Pergolesi" verwie-
sen, auch die Gestaltung der dafür entsprechenden Seiten genügt durchaus
den Ansprüchen. Man beachte hierbei insbesondere die gut austarierte
Gewichtung der Schriftgrade zueinander (Pulcinella/Tafel 1).
Am Rande sei noch vermerkt, daß es auch "persönliche Dirigentenparti-
turen" gibt, Partituren also in Dirigentenbesitz (berühmte Beispiele
siehe die Links-Seite: Seiten aus den Le sacre du printemps-Partituren
von Eugene Ormandy und Leopold Stokowski). Und es kommen auch Sonder-
drucke, Schmuckausgaben (numerierte Erstdrucke, Vorzugsexemplare) vor.
Eine Bemerkung noch zu "Édition Russe de Musique". Diese erst später
verwendete, auf internationale Verständlichkeit gerichtete Markenangabe
(Übersetzung von "Russischer Musikverlag") darf meines Erachtens trotz
etlicher Widersprüche nicht dazu führen, wie das sehr häufig geschieht,
sie als die eigentliche Firmenbezeichnung anzusehen (so u.a. Walsh, New
Grove 2001; Yuzefovich, MQ 2004; Scherliess, MGG 2006). Man beachte
beispielsweise den Copyright-Block auf der ersten Notenseite (S. 3) der
Pulcinella-Ballett-Partitur (ebenso der Orchestersuite), er verdeutlicht
das Verhältnis der Bezeichnungen zueinander unmißverständlich und er
macht auch die Rechtsgrundlage klar (mehr über den RMV in einer in
Arbeit befindlichen kleinen, Strawinsky betreffenden, Dokumentation):
Coypright 1924 by Russischer Musikverlag, G. m. b. H., Berlin
Russischer Musikverlag, G.m.b.H., Berlin, Leipzig
Édition Russe de Musique
In Universitätsbibliotheken ist der vom Chester-Verlag veröffent-
lichte Klavierauszug in neueren Drucken weitgehend präsent (Coypright
1920, Notentext nach wie vor original, Nachrucke). Ziemlich selten ist
dagegen in Bibliotheken (Stand Juli 2007) die Studienpartitur der DiPa
der "Revised Edition 1965", und ganz besonders rar scheint die einst
käufliche DiPa selbst zu sein (Boosey & Hawkes, Coypright 1966, Noten-
text der DiPa: kein direkter Nachdruck der RMV-DiPa, Neusatz!, StPa:
Verkleinerung).
In der Liste unten fällt im Zusammenhang mit dem Klavierauszug der
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Begriff "Hansen-Drucke". Das ist ein behelfsmäßiges Ordnungsetikett. Es
soll jüngere Drucke kennzeichnen, bei denen auf irgendeine Weise auf der
Titelseite z.B. "Wilhelm Hansen, Musik-Forlag" oder "Edition Wilhelm
Hansen" auftaucht (oder auch "Edition Wilhelm Hansen" in der Copyright-
Angabe auf der ersten Notenseite).
Nun zur Aufdröselung des oben wiedergegebenen Pulcinella-Kapitel-
vorspanns aus K. 2002:]
- 34 -:
K. 2002-Numerierung nach K. 1958-Tradition (zu K. 1958 siehe weiter
oben)
Pulcinella:
Werkobertitel stimmt.
Suite italienne:
Verkürzte Titelwiedergabe. Die Angabe bezieht sich auf die "Piati-
gorsky-Suite" und die "Dushkin-Suite". Das versucht die Fußnote °
klarzumachen. Trotzallem: Was soll die Nennung der abgeleiteten
Kammermusikwerke im Titelbereich des Hauptwerks? Zudem gibt es ja
auch noch andere abgeleitete Werke (mit eigener Titelgebung).
1) Französischer Titel:
Es gibt mehrere Versionen. Der ersten Notenseite der RMV-Dirigierpar-
titur von 1924 (genauer: den ersten beiden Zeilen dieser Titelgebung,
siehe unten) müßte sicherlich der Vorrang eingeräumt werden. Es sei
denn, man wählt insgesamt eine vollkommen andere Wiedergabeform.
Deckblatt des Klavierauszugs J. & W. Chester, Ltd., London 1920, früher
Druck (wohl Erstausgabe):
Igor Strawinsky d'après Giambattista Pergolesi. // Pulcinella
Anmerkung: Diese frühe Ausgabe ist eine Sammlerrarität.
Titelseite dieses Drucks:
Pulcinella / Ballet avec chant en un acte
Musique de Igor Strawinsky // d'après Giambattista Pergolesi
Anmerkung: In dem von mir eingesehenen Exemplar scheint der Accent
grave in "D'APRÈS" nach dem Druck handschriftlich ergänzt zu sein,
er ist aber in der Tat gedruckt.
Info-Seite (das ist die Rückseite der Titelseite, S. [II]) des Klavier-
auszugs Chester 1920, früher Druck, späterer Druck und "Hansen-
Drucke" (= jüngere Ausgaben):
Pulcinella / ... / Ballet avec chant en un tableau
Musique d'Igor Strawinsky, d'après Giambattista Pergolesi
Anmerkung: Diese Version entspricht der Angabe in K. 2002.
"Hansen-Drucke" (= jüngere Ausgaben): Stravinsky (mit "v")
Seite 5 des Klavierauszugs Chester 1920, Drucke wie vorher:
Pulcinella / Ballet avec chant en un acte
Musique de Igor Strawinsky d'après Giambattista Pergolesi.
"Hansen-Drucke" (= jüngere Ausgaben): Stravinsky (mit "v")
Deckblatt und Titelseite der Dirigierpartitur Russischer Musikverlag
G.m.b.H. (Édition Russe de Musique), Berlin 1924:
Igor Strawinsky / Pulcinella / Ballet // d'après J.B. Pergolesi
[fast: J.B.Pergolesi]
Anmerkung: J.B., nicht, wie im Französischen eigentlich üblich, J.-B.
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Erste Notenseite dieser Partitur:
Pulcinella / Ballet avec chant en un acte
Pergolesi - Strawinsky
2) Deutscher Titel:
Ungekennzeichnete Übersetzung, meines Wissens unauthentisch
3) Englischer Titel:
Es gibt mehrere Versionen. Die Fassung in K. 2002 ist nach der Titel-
seite des Klavierauszugs Chester 1920, späterer Druck und eingesehe-
ne "Hansen-Drucke" (= jüngere Ausgaben), "richtig", bezüglich der
"revidierten" Dirigierpartitur unvollständig bzw. falsch (siehe un-
ten). Meines Erachtens hätte in diesem Zusammenhang der "revidierten"
Dirigierpartitur der Vorrang eingeräumt werden müssen.
Deckblatt des Klavierauszugs Chester 1920, späterer Druck:
Igor Strawinsky after Giambattista Pergolesi. // Pulcinella
Titelseite dieses Drucks und eingesehener "Hansen-Drucke" (= jüngere
Ausgaben):
Pulcinella / Ballet in one act with three solo voices
Music by Igor Strawinsky // after Giambattista Pergolesi
"Hansen-Drucke" (= jüngere Ausgaben): Stravinsky (mit "v")
Info-Seite dieser Drucke:
Siehe oben unter Klavierauszug früher Druck
Seite 5 dieser Drucke:
Siehe oben unter Klavierauszug früher Druck
Deckblatt der Dirigierpartitur Boosey & Hawkes 1966 ("Revised Edition
1965"):
Igor Stravinsky / Pulcinella / Ballet
Titelseite dieser Ausgabe:
Igor Stravinsky / Pulcinella
Ballet in one act for small orchestra with three solo voices // after
Giambattista Pergolesi
Erste Notenseite dieser Ausgabe (S. 3):
Pulcinella // Igor Stravinsky after Giambattista Pergolesi
4) Italienischer Titel:
Ungekennzeichnete Übersetzung, meines Wissens unauthentisch
Ich will jetzt nicht auf die Titel- bzw. Bezeichnungssachverhalte der
musikalischen "Abschnitte" des Balletts (Klavierauszug und Orchesterpar-
tituren unterscheiden sich) und ebenso nicht auf die der abgeleiteten
Werke eingehen. K. 2002 genügt auch hier nicht den Anforderungen an ein
Werkverzeichnis. Vor was warnt uns die oben wiedergegebene Darstellung
hoffentlich eindringlich? Ich kann Ihnen nur sagen, wenn Sie viel Glück
haben, ist der Bereich "Titelgebung" besser, wenn Sie Pech haben, ist er
schlechter bis katastrophal. Noch eine Bemerkung am Rande: Haben Sie in
Zeile 5 nach "Pergolesi" den Punkt gesehen? Oder in der vorletzen Zeile
vor "Pulcinella" die durch die automatische Zentrierung erfolgte Fehl-
plazierung des Abtrennungsstrichs? Außerdem: Pergolesis Namen kommt in
zwei Fassungen vor, der Grund dazu ist dem Ahnen überlassen. Man trifft
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in K. 2002 immer wieder auf solche Sachen. Nicht zu vergessen: Das Buch
ist ein (teures) Verlagswerk, keine E-Mail...
Noch ganz schnell ein Wort zu einer Lösung des "Pulcinella-Falls".
Was wäre zu tun gewesen? Es gibt wohl mehrere Wege. Einer wäre der
folgende: Zwischen der älteren und der neueren ("revidierten") Titel-
gebung zu unterscheiden. Vor allem aber: Klavierauszug und Dirigier-
partituren auseinanderzuhalten. Das alles hat K. 2002 noch nicht einmal
in Ansätzen thematisiert. Man könnte also beispielsweise so vorgehen:
Alte Titelfassung (Zusammenfassung Titelseite Klavierauszug 1920, früher
Druck und Dirigierpartitur, 1924; ein Behelf, wohl problematisch):
Pulcinella / Ballet avec chant en un acte d'après Giambattista
Pergolesi
Neue Titelfassung (Klavierauszug, neuere Drucke):
Pulcinella / Ballet in one act with three solo voices / Music by
Igor Strawinsky after Giambattista Pergolesi
Neue Titelfassung (Dirigierpartitur, 1966):
Pulcinella / Ballet in one act for small orchestra with three solo
voices after Giambattista Pergolesi
Vorschlag für eine vielleicht geeignetere englische Haupttitelgebung:
Pulcinella / Ballet in one act for small orchestra with three solo
voices after Giovanni Giambattista Pergolesi, Domenico Gallo, Carlo
Ignazio Monza, Alessandro Parisotti (?) and Jacob Unico Willem van
Wassenaer
Die französische Version davon wäre in etwa:
Pulcinella / Ballet en un acte pour petit orchestre avec trois voix
solistes d'après Giovanni Giambattista Pergolesi, Domenico Gallo,
Carlo Ignazio Monza, Alessandro Parisotti (?) et Jacob Unico Willem
van Wassenaer
Diese vorgeschlagene Titelgebung berücksichtigt neuere Quellenfor-
schungen, und ein solcher Bezug wird, in welcher Form auch immer, in
Zukunft nicht zu umgehen sein. Das Fragezeichen hinter Parisotti steht
für "wahrscheinlich" oder "vermutlich". Eine Vorsicht, die mir derzeit
noch geboten scheint. Anders bei van Wassenaer. Gegen dessen Autorschaft
einer von Strawinsky genutzten Vorlage scheint es hier und da noch
Zweifel zu geben. Nun liegt aber seit 1980 eine Dokumentation vor, die
meines Erachtens das Rätsel überzeugend auflöst: van Wassenaer schrieb
auf eine Abschrift von sechs "Concerti armonici", zu denen das von Stra-
winsky verwendete Stück gehört, eine lange entstehungskundige Bemerkung,
die obendrein noch mit "Partition des mes concerts" beginnt!
Zu all den Autorenfragen bot, soweit mir bekannt, Barry S. Brook die
letzte ernstzunehmende dokumentarische Abhandlung; gemeint ist sein 1988
erschienener Aufsatz "Stravinsky's Pulcinella: The 'Pergolesi' Sources"
(in: Joël-Marie Fauquet, Musiques Signes Images, Genf 1988, Éditions
Minkoff). Brook's Darstellung ist keine trockene Auflistung, sondern
eine spannend erzählte (wenn auch mit nicht wenigen Fehlern durchsetzte)
dokumentarische Geschichte (mehr zu alldem hier an anderer Stelle).
Vielleicht sollte bei der Sucherei nach einem neuen Titel noch fol-
gendes bedacht werden: Verkürzt man in der vorgeschlagenen Hauptitel-
gebung drei der Namensgebungen auf übliche Formen zurecht, dürfte das
monströse Titelgebilde sicherlich etwas von seiner kritischen Endlosig-
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keit verlieren: Giambattista Pergolesi, Carlo Monza, Unico Willem van
Wassenaer.
Auch könnte zur Debatte stehen, ob "small orchestra" und "petit
orchestre" treffende Formulierungen seien. Vorzuziehen wäre vielleicht,
"chamber orchestra" bzw. "orchestre de chambre" einzusetzen. Da aber in
der Tat "small orchestra" in der 1966er Partitur verwendet wurde und
"petit orchestre" sogar schon lange davor in alten Ausgaben der Pulci-
nella-Suite, sollte man hier vielleicht nicht päpstlicher sein als der
Papst.
Als Beitrag für die Titel-Diskussion zwei historische Ausgaben der
Pulcinella-Suite und drei weitere themabezogene Titelgebungen alter
Druckausgaben (Groß- und Kleinschreibung frei gehandhabt):
Suite de Pulcinella pour petit orchestre d'après J.B. Pergolesi
(Russischer Musikverlag, 1924, Studienpartitur)
Pulcinella / Suite pour petit orchestre d'après Pergolesi
(Revised 1949 version, Boosey & Hawkes, Druck 1949, Studienpartitur)
Suite No. 2 pour petit orchestre / für kleines Orchester / for small
orchestra
(Wiener Philharmonischer Verlag, 1926, Studienpartitur)
Suite No. 1 pour petit orchestre / für kleines Orchester / for small
orchestra
(Wiener Philharmonischer Verlag, 1927, Studienpartitur)
Dumbarton Oaks / 8-V-38 / Concerto en mi b [bzw. mib] pour orchestre
de chambre
(Schott, 1938, Studienpartitur: Erstausgabe und Ausgabe 1966)
Soweit ein paar gedruckte Zeugen. In Brook (S. 57) ist ein hand-
schriftlicher "petit-Nachweis" wiedergegeben, der in der Strawinsky-
Sammlung der Paul Sacher Stiftung, Basel, unter den Pulcinella-Dokumen-
ten zu finden ist: "Pergolesi-Stravinsky ["v"!?] / Deuxième Suite /
pour / petit orchestr. [sic] / I. Preludio / Atto alla breve". Neben-
bei: Interpreten sollten sich die Materialien der Stiftung zu Gemüte
führen. Strawinsky plante einst, wie Brook andeutet und der zitierte
Untertitel auch zeigt, eine zweite Pulcinella-Orchestersuite. Vielleicht
lassen sich aus den gehüteten Dokumenten Einzelheiten einsammeln. Nicht
übersehen: Außerhalb der Gavotta con due variazioni kommt ein "Alle-
gretto" heute nur noch im Klavierauszug vor (Copyright 1920). Es handelt
sich hierbei um die Arietta "Contento forse vivere", deren Tempovor-
schrift in der heutigen "revidierten" Partitur (Copyright 1966) "Ancora
poco meno, [Viertelnote] = 86" lautet. Doch dieses Teilstück (mit der
Taktvorzeichnung 4/4) ist eigentlich kein Gesang alla breve, das unter-
streicht ja auch die Tempobezeichnung der jetzigen DiPa. Bestand bei
Abfassung und der frühen Drucklegung des Pulcinella (1920, 1924) eine
andere Vorstellung? Oder ist mit "Allegretto alla breve" ein anderer
Abschnitt gemeint?
Eine weitere Titel-Nachbesserung könnte "with" bzw. "avec" gelten,
ein einfaches "and" bzw. "et" klänge vielleicht angenehmer. Doch auch
hier sollten die gedruckten Ahnen (z.B. "Ballet avec chant en un acte",
siehe oben) nicht übersehen werden. (Dank an Louis Cyr für seine Gedan-
ken und Anregungen zum Thema "Neue Titelgebung".)
Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Komponist angesichts des ge-
genwärtigen Wissensstands diesen Überlegungen rund um eine revidierte
(Haupt-)Titelgebung ganz und gar ablehnend gegenüber gestanden hätte.
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Jedenfalls waltet hier Umsicht, die auf seinen Willen bzw. auf seinen
möglicherweise letzten Willen hin ausgerichtet ist. Aber vielleicht gibt
es bessere Lösungen. Orientierungsziel ist auf jeden Fall der Wille des
Komponisten. Alle anderen Willensvorstellungen haben ihre Wichtigkeit an
der Garderobe abzugeben. (An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen,
daß natürlich auch etwaige handschriftliche Fassungen, authentische
Äußerungen und relevante Tonträger-Versionen, Eigeneinspielungen etwa,
in die Diskussion einzubeziehen wären.)
Fazit: Die Art und Weise, wie der Dokumentationsbereich "Titelge-
bungen" behandelt wurde, ist in diesem Verzeichnis K. 2002 für meinen
Geschmack wohl mit der neuralgischste Punkt. Die Mängel sind für eine
wissenschaftliche Arbeit um etliches zu zahlreich, zu gravierend und zu
fundamental. Und zu allem Überfluß ist das Werk auch nur eine Art Ver-
suchsdruck. Es soll ja irgendwie doppelt verkauft werden: Verbessert
(wenn schon, dann lieber passagenweise neu verfaßt) und in "großer Aus-
gabe". Was also ist K. 2002 denn nun eigentlich? Es ist eine "kleine
Ausgabe", 602 gebundene Seiten, 84 Euro teuer, vom Autor expressis
verbis von vornherein für den Papierkorb bestimmt. Selbstpropagierte
Buchentsorgung. Was es auf Erden alles gibt!?
Apropos K. 2002-Überprüfung. Ein Großteil der Angaben zu den musika-
lischen Vorlagen, die Pulcinella zugrunde liegen (S. 227/228), ist mit
meinen gesammelten Unterlagen und Aufzeichnungen nicht in Einklang zu
bringen. Entweder ist K. 2002 weitgehend im Irrtum oder ich. Da ich kein
Fachmann auf diesem Gebiet bin, stehe ich etwas ratlos da. Nun ist aber
unübersehbar, daß in der von K. 2002 gelieferten Aufstellung zumindest
schon mal die Angabe zur Gavotta glattweg falsch ist (falscher geht's
gar nicht). Und so traue ich doch eher meinen Unterlagen, zumal sie
Quellen beinhalten, die ernstlich anzuzweifeln, ich keinen Grund sehe.
In der Tat, K. 2002 macht viel Arbeit. Im "dokumentarischen Bereich"
treffe ich immer wieder und nahezu überall auf "Unterschiede". Das
bedeutet dann oft umständliche Bibliotheksgänge oder tagelanges Suchen
in ursprünglichen Unterlagen usw. Beispielsweise ist der Uraufführungs-
tag des Pulcinella-Balletts falsch (man meint immer selbstredend die
Orchesterfassung, so auch K. 2002); als Tag ist (wie üblich) das Datum
angegeben, das auf der Info-Seite des Klavierauszugs steht. Das Plakat
der Uraufführung (Orchesterfassung) aber sagt was anderes. Falsch ist
auch der Uraufführungstag der "Kochanski-Suite". Ich mußte mich mühsam
durch Mikrofilme durchspulen, um meine Angabe verifiziert zu finden. Das
alles sind Wege und Arbeiten, die keinem zugemutet werden können. Ich
wiederhole meine Frage: Kann mir einer sagen, was das soll? Und dann,
was soll man zu der folgenden verblüffenden Auffassung sagen (S. 227):
"Die Frage der Echtheit [festzustellen, inwieweit Pergolesi der Kom-
ponist der Musikvorlagen ist oder nicht] ist kein Thema der Strawinsky-
forschung". Rumms, typisch K. 2002. Damit glaubt er, sich aus dem
Schneider geschlichen zu haben. Richtig ist aber doch wohl, daß das sehr
wohl ein Thema der Strawinsky-Forschung ist. Das Thema heißt nämlich
ganz schlicht Ehrlichkeit. Wenn Strawinsky bei der Abfassung seines
"Arrangements" gewußt hätte, daß nicht alles von Pergolesi ist, hätte er
sein Wissen sicherlich nicht verschwiegen. Nun kann die Musikforschung
wenigsten nachträglich die Dinge zu richten versuchen, denn auch an
fremde Hüte steckt man keine fremden Federn. Und Mißverständnisse können
schnell entstehen. Man bedenke nur, daß es in den Noten der Suite
italienne pour violoncelle et piano heißt (von "Pergolesi" oder Pulci-
nella ist nirgends die Rede): Composé par / Igor Strawinsky / 1932[.]
Das steht nicht irgendwo, sondern auf den ersten Notenseiten der
Klavierpartitur und der Cellostimme, an maßgeblicher Stelle rechts oben
über den Notensystemen. Und zu allem Überfluß wird auch noch (reichlich
schillernd) auf den "auteur" hingewiesen: La partie du violoncelle de
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Intro 2002 ff. Seite A36
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cette partition est établie par l'auteur en collaboration avec Gregor
Piatigorsky (so auf der ersten Notenseite der Klavierpartitur, auf der
ersten Notenseite der Cellostimme leicht variiert: Cette partie de
violoncelle est établie par...). Soweit die Wiedergabe aus der Ori-
ginalausgabe des Russischen Musikverlags ("RMV", Copyright 1934). Die
direkt nachfolgenden Boosey & Hawkes-Übernahmedrucke (z.B. die Drucke
1948 und 1965 oder kurz danach) stimmen damit überein, haben jedoch den
"auteur"-Hinweis auch auf der Titelseite (in folgender Form: La partie
du violoncelle établie par l'auteur en collaboration avec Gregor
Piatigorsky).
Sollte etwa "composé" einen übertragenen Sinn haben? Vielleicht
"zusammengestellt"? Bei der "Dushkin-Fassung" der Suite italienne ist
"Igor Strawinsky" ohne "Composé par" angegeben, was nicht viel besser
ist, zumal es auch hier den Hinweis auf den "auteur" gibt (und hier
ebenso weder "Pergolesi" noch Pulcinella erwähnt sind): Transcription
[so Deckblatt (nur RMV) und Titelseite; über jedem Satzbeginn der Kla-
vierpartitur und Violinstimme: Arrangé] pour violon et piano par
l'Auteur et S. Dushkin. Allerdings schwingt hierbei still und leise die
Frage mit: Transkription bzw. Arrangement von was? Und um es nicht
unerwähnt zu lassen: Natürlich thront in Großbuchstaben auf den Deck-
blättern und Titelseiten der beiden Suiten "Igor Strawinsky" in der
üblichen Autorposition.
(Hinweise: Jüngere Boosey & Hawkes-Drucke: Stravinsky, mit "v";
Deckblatt-Titelgebung der Boosey & Hawkes-Ausgabe der "Dushkin-Suite",
beispielsweise Druck 4.[19]62, anders als bei der RMV-Ausgabe: Suite
italienne pour violon et piano, also nicht die "RMV-Langfassung": Suite
italienne / Transcription pour [...] Dushkin[.] Titelzitate und Autor-
schaftsangaben betreffend: Keine exakte Nachbildung der diversen Groß-
schreibungen, außer bei der "Dushkin-Suite": l'Auteur; "Piatigorsky-
Suite" auch in den Noten: l'auteur. Beachte auch: Die Ausführungen zur
"Dushkin-Suite" und "Piatigorsky-Suite" beziehen sich auf RMV- und
nachfolgende Boosey & Hawkes-Ausgaben, die gegenwärtigen Boosey &
Hawkes-Drucke dieser beiden Bearbeitungen habe ich noch nicht überprüft,
zur "Kochanski-Suite" siehe unten.)
Genauer hinsehen ist also offensichtlich doch ein Thema der Strawin-
sky-Forschung. Entschieden klarer scheinen im übrigen die Verhältnisse
bei der "Kochanski-Suite" zu liegen. Dort findet man auf den beiden
ersten Notenseiten (Klavierpartitur, Violinstimme) zwar "Igor Strawin-
sky / 1925" vor, den "Autor-Eindruck" verhindert aber die Titelgebung
auf Deckblatt, Titel- und erste Notenseite ganz manierlich (die Vorla-
genkenntnis entspricht dem damaligen Stand): Suite pour violon et piano
d'après des thèmes, fragments et morceaux de Giambatista [sic] Pergo-
lesi. Wie schon bei den vorher genannten Suiten wird auch bei dieser
Duo-Suite in den Noten nicht auf das Stammwerk Pulcinella hingewiesen.
Grund? (Angaben nach der RMV-Ausgabe; die erstmalige Boosey & Hawkes-
Ausgabe von ca. 1995 [Noten: Reproduktionsdruck] hat eine analoge eng-
lische Betitelung; in einem Vorwort wird auf Pulcinella hingewiesen,
auch auf die Vorlagensituation, doch sind die Angaben dazu inzwischen
zum Teil überholt.)
"Kein Thema der Strawinskyforschung": Ich vermute, es steckt hinter
dieser reichlich vollmundigen Auffassung noch etwas ganz anderes. Die in
K. 2002 stenogrammartig und im Überheblichkeitston angeführten Hinweise
auf Vorlagenforschungen nennen zuletzt - nirgends näher bezeichnet -
einen "Hucke" (gemeint ist Helmut Hucke, einst Professor der Musikwis-
senschaft in Frankfurt am Main). Für K. ist das offensichtlich das
Neueste auf dem Gebiet, denn es fällt im Zusammenhang mit "Hucke" ein
"neuerdings". Auf was nun könnte "neuerdings" hinweisen? Nach dem, was
ich mir so vorstellen kann, dürfte es sich hierbei um jene Aufstellung
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Intro 2002 ff. Seite A37
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handeln, die auf der Hülle einer 1979 veröffentlichten Langspielplatte
erschien (Deutsche Grammophon, Einspielung unter Claudio Abbado). Der
Autor der Liste ist nicht genannt, doch wird auf der Hülle Hucke für die
Erforschung der nicht von Pergolesi stammenden Vorlagen gedankt. Von
daher also wohl der "Neuerdings-Hucke". Nun weist aber diese Vorlagen-
auflistung (außerhalb des auf Hucke beziehbaren Verantwortungsbereichs)
eine unglückliche Unzulänglichkeit auf, ein Abschreibfehler vielleicht
nur, der jedoch gravierende Auswirkungen haben kann. Denn wer nun andere
(wichtige) Quellendarstellungen nicht kennt (das sind u. a. ein weite-
rer, früherer, Hucke, ein Anonymus und ein Brook), sitzt sicherlich vor
einer Was-mach-ich-denn-nun-damit-Auflistung. Und in der Tat sind in K.
2002 weiters keine gegenprüfenden, solcherlei auflösungsfähigen Arbeiten
erwähnt. Somit stand K. wohl vor Rätseln. Und wie also kommt man aus
solch einer Zwickmühle raus? "Kein Thema..." Mich würde sehr wundern,
wenn meine Annahme (so oder ähnlich) nicht zuträfe.
[Einschub Ende 2006: Fast der gesamte Abschnitt über die Pulcinella-
Vorlagen ist ein Desaster. Auch blinde Abschreiberei gibt's da (man ver-
gleiche zu derlei "ergographischer Methode", wie K. seine Arbeitsweise
nennt, meine Kritik an K.s Versuch zum Klavierkonzert). Ausgegangen ist
K. insbesondere und wohl zuallerst (Quelle, wie meistens, verschwie-
gen!) von der Vorlagen-Tabelle, die White in beiden Editionen seines
Standardwerks wiedergegeben hat (1966 und 1979, ist in beiden Ausgaben
gleich, 1979: S. 285). Doch bei diesem seinem Kopierherumhantieren über-
sieht K. nicht nur Probleme und Fehler, er bemerkt auch die (White als
Spick-Quelle aufdeckende) Vertauschung zweier Vorlagenzuordungen nicht.
Mehr noch: Es entwickelt sich K.'s "Methode" zu einem rettungslosen
Sich-Verhaspeln, und wen wundert's, daß dann fehlerbehaftete Unterlagen,
wie die weiter oben vermutete, einem "Außenstehenden" nicht weiterhelfen
können. Ganz kurz noch aus K. 2002, aus dem dortigen Pulcinella-Zauber-
hut, ein Schmankerl fürs Schmunzel-Pinboard: "Streicher-Suite Nr. XII
für Streicher" (S. 228). (Randnotiz zu den beiden angesprochenen
White'schen Vorlagenzuordnungen: Die eine der beiden Angaben ist sehr
merkwürdig; die Herkunft ist noch ungeklärt, höchstwahrscheinlich ein
Druckfehler. Über die Pulcinella-Vorlagen an anderem Ort mehr.)]
Fortsetzung
Pulcinella-Arbeit
[intro03]
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