Intro 2002 ff. Seite A48a.x
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Pulcinella: Orchester-Suite, Partituren bis 2002, Editorisches 1
Gelungene Graphik
Pulcinella Suite, Revised 1949 Version
Leihdirigierpartitur der hellblauen Serie
Boosey & Hawkes, "2002 printing", Großformat
- und im neuen Zeitalter mit "www.boosey.com"
Die folgenden Seiten sind etwas für Notenfreunde mit dokumentarischem
Spürsinn, für entschlossen Neugierige dieser Kultursparte. Klar ist, so
sehr viele dürften das nicht sein, doch die sich hier einzulesen bemü-
hen, werden sicherlich die eine oder andere Sichtergänzung dazugewinnen.
Abkürzungen:
B & H Boosey & Hawkes, London
DiPa Dirigierpartitur
ÉRM Édition Russe de Musique, siehe RMV
Kauf-DiPa Für den Verkauf konfektionierte DiPa-Ausgabe
KlA, KlAS Klavierauszug, Klavierauszug mit Singstimme(n)
Leih-DiPa Leih-, Mietdirigierpartitur
RMV Russischer Musikverlag, Berlin, später Paris
S. Seite
StPa Studien-, Taschenpartitur
Z Ziffer, Studierziffer
Um was geht es hier?
2010 fiel auf, daß in die seit Jahren im Geschäftsverkehr befindliche
hellbaue Serie der Boosey & Hawkes-Leihdirigierpartituren auch die Par-
titur der "revidierten Fassung" der "Pulcinella Suite" aufgenommen wor-
den war (zum Titel: sicherlich richtiger "Suite de Pulcinella", hier der
Einfachheit halber oft "Pulcinella-Suite"). Das Deckblatt sehr schick,
versehen mit dem Hinweis "2002 printing": Was mag es damit auf sich
haben? Diese Frage stellt sich natürlich von selbst. Und da die Möglich-
keit bestand, die Ausgabe einzusehen, erwuchs die Idee, hinsichtlich der
Pulcinella-Suite über so manches Editorische einen Überblick anzubieten,
dies aus gutem Grund, denn das Werk (genauer: die Partitur) hat eine
lange Ausgabengeschichte hinter sich, wie so manch andere Strawinsky-
sche Komposition auch.
Vorgestellt werden also die "2002 printing", die Vorgänger dazu, das
sind vor allem die Editionen von 1949 an aufwärts, höchstwahrscheinlich
ist die von 2002 die neueste. Weitere Hauptthemen sind: Wandlung und
Zerfaserung der Titelgebung, Abänderung des Copyright-Blocks, Verlust
des überaus wichtigen Hinweises auf die Ripieno-Streicherstärke, Fehler
und Interpretationen ("Notendeutungen") werden angemerkt, und es kommt
in den Blick eine vermutliche Tragik (1970/1971). Beigesteuert wird auch
eine längere Ausführung über Leihmaterial. Zudem findet der Leser zwei
Tabellen vor: Eine zum Petrouchka-Klavierauszug (im Mittelpunkt steht
hierbei, gezeigt auch an anderen gravierenden Beispielen, die Verwand-
lung des Copyright-Blocks) und eine zur Pulcinella-Suite (sie vermittelt
einen Überblick über die hier in Auswahl beobachteten editorischen
Elemente).
Ungewohntes, Frappierendes
Wer sich bibliographisch, philologisch, diskographisch, wie auch
immer, mit Ausgaben, Auflagen, Neueditionen und dergleichen beschäftigt,
wird sehr oft (man kann sogar mit Fug und Recht sagen: wird in der
Regel) auf irgendeine Besonderheit stoßen, auch taucht nicht selten
Überraschendes auf. Voraussetzungen für das Entdecken sind allerdings
akribisch genaues Hinsehen, eine fast detektivische Suche und Musterung,
vor allem aber das Bemühen um einen Blick für meist als nebensächlich
angesehene Sachverhalte, für Eigenschaften, die kaum jemand beachtet.
Der Lohn mag dann gelegentlich sein, daß sich Überraschungen zu "Selt-
samkeiten" oder sogar zu rätselhaften Unerklärlichkeiten verdichten.
Wie gesagt, im folgenden wollen wir uns vor allem ausgewählte edito-
rische Elemente, "Nebenaspekte", einiger Ausgaben der Pulcinella-Suite
ansehen. Der Verlag, mit dem wir es hierbei zu tun haben, ist Boosey &
Hawkes (ab hier oft B & H). Dieser in London ansässige Verlag war Igor
Strawinskys Hauptverleger. Geworden, muß man sagen. Er wurde dies vor
allem durch die 1946/1947 erfolgte Übernahme des 1909 gegründeten Russi-
schen Musikverlags, auch Édition Russe de Musique genannt (Abkürzungen
von hier an oft RMV oder ÉRM). Inhaber des Hauses war das Ehepaar Sergej
und Natalja Kussewitzky (siehe hierzu die Abbildung des Firmenlogos auf
Tafel 1; man beachte: editorische Einzelheiten rund um die Pulcinella-
Erstpublikationen des RMV werden in der folgenden Darstellung nur kur-
sorisch angesprochen).
Zwei Stufen
Die Partitur des Pulcinella-Suite existiert in zwei Stufen: Zum einen
ist das der Originaldruck von 1924 und zum anderen die reviderte Aus-
gabe, die in einem 1949 entstandenen Neusatz ("Neustich") vorliegt. Zur
letztgenannten Ausgabe, zu deren Notentext selbst und ihrem musikalisch-
strukturellen Verhältnis zum Gesamtballett ist im Hauptartikel und auf
der Tafel 2 einiges gesagt worden. Um solches geht es hier nicht, hier
geht es um editorische Belange. Und da es sich bei diesen Erscheinungen
um meist sehr feine Unterschiede handelt - denen in der nachfolgenden
Rahmenzeichnung nicht bis in die letzten Winkel nachgespürt werden kann
- ist weiter unten ein chronologischer Überblick beigegeben, die Auf-
stellung "Suite de Pulcinella (Pulcinella Suite, Pulcinella-Suite)",
sie kann zum Nachschlagen und Vergleichen dienen. Zum Schmökern wird
sich derlei - es gibt zum Zweck der Einführung noch eine weitere Auf-
stellung und zwar zum Pétrouchka-Klavierauszug - nicht gerade anbieten.
Doch dokumentarisch Interessierte trotzen ja bekanntermaßen noch der
trockensten Einöde Wasser ab.
Bei diesen Aufstellungen ist zu beachten, daß die Zeitabfolge auf
Grund von Hinweisen erstellt ist, von denen die Datierung - genau
oder ungefähr - abgeleitet werden kann. Der klassische Fall dieser Hin-
weise kommt in der Pulcinella-Liste vor. Es ist kein bloßes Hilfsmittel,
sondern in der Tat ein handfestes Druckdatum, wie es in früheren Zeiten
die B & H-Drucke auf der letzten Notenseite unterhalb des Notentexts
aufwiesen, so z.B. die Studienpartitur-Erstausgabe der "reviderten Aus-
gabe" der Suite de Pulcinella:
L.& B. 3·49
Dies ist ein Kürzel, es steht für: Printed by Lowe and Brydone
(Printers) Limited, London, März 1949.
Sind derartige spezifische Druckdaten nicht vorhanden, so müssen
andere Hinweise als Orientierungsmittel herhalten, z.B. Annoncen-Datie-
rungen oder vor allem das Copyright-Jahr. In diesem Zusammenhang sei
erwähnt, daß die die Druckvorlagen der Pulcinella-Suite identifizierende
Plattennummer B. & H. 16332 nicht nur eine sachliche Kennzeichnung ist,
sondern daß darüber hinaus - und das ist wichtig - deren Stellung in der
Nummernliste der B & H-Drucke der Copyright-Jahresangabe "1949" und dem
Druckdatum nicht widerspricht. Das ist kein überflüssiger Hinweis. Denn:
Es kommen bei solcherlei Details durchaus auch Probleme vor. Hier aber
nicht.
Titelgebung - Zerfaserung
Es folgen nun ein paar Hinweise zu wichtigen bibliographischen
Elementen der Suite de Pulcinella-Partitur. Hierfür rücken in den Blick-
punkt vor allem drei Teile: Deckel (= Deckblatt), Titelseite (= Seite
[1]) und erste Notenseite (= Seite 3).
Zunächst zum sofort ins Auge fallenden "Außenelement" Titelgebung. Es
gibt etliche und sehr unterschiedliche Fassungen. Welche ist korrekt,
ganz abgesehen davon, daß ein englischer und ein französischer Varian-
tenzweig existiert? Sieht man alles zusammen, scheint als Obertitel
"Suite de Pulcinella" angemessen zu sein. Doch das ist vielleicht nur
die halbe Wahrheit, man studiere weiter unten die Liste eingesammelter
Unterschiede. Nach was soll man sich dabei richten, nach dem Deckblatt,
nach der Titelseite oder nach der ersten Notenseite? Auch wird in der
Auflistung deutlich, zum eigentlichen Titel gehören noch die Hinweise
"pour petit orchestre" und das mittlerweile berüchtigte, weil nicht mehr
haltbare, Anhängsel "d'après J. B. Pergolesi".
"SUITE DE PULCINELLA" steht auf allen ersten Notenseiten der revi-
dierten Edition über dem Notentext, also an eminent wichtiger Stelle
(in der Erstausgabe des Werks, 1924 im RMV erschienen, lautet dort der
Titel allerdings nur "SUITE", hierzu siehe weiter unten). Eingebürgert
hat sich weltweit: "Pulcinella Suite" (deutsch: mit Bindestrich). Waren
für diese Änderung anglo-amerikanische Sprachgewohnheiten ausschlag-
gebend? Oder welche Gründe könnten sonst noch vorliegen? Eine Antwort
kann hier nicht gegeben werden. Doch liegt, wie die Editionsentwicklung
zeigt, eine allmähliche Wandlung vor, diese soll im folgenden kurz nach-
gezeichnet werden. Und dabei fällt auch auf, zwischen den beiden Formen
kann ein Bedeutungsunterschied ausgemacht und begründet werden.
Auf dem Frontdeckel und auch auf der Titelseite der 1924er Studien-
partitur der Originalfassung steht, wie später auf den ersten Noten-
seiten, "SUITE DE PULCINELLA", und zwar in der vollständigen langen
Fassung: SUITE DE PULCINELLA / POUR / PETIT ORCHESTRE / D'APRÈS /
J.B. PERGOLESI (siehe die Abbildung weiter oben und auch die Aufstellung
weiter unten, beachte: die 1924er DiPa der "Suite de Pulcinella" ist
sehr selten und war für die Untersuchung nicht greifbar). Was an dieser
Titelfassung unübersehbar ist, ist die deutlich formulierte Differen-
zierung: Man hat es mit einer Suite aus Pulcinella zu tun. Zudem steht
"Suite" betont am Anfang; es ist zum Gesamtwerk, dem Ballett, eine Ab-
grenzung zu spüren. Darüber hinaus ist in dem Begriffskompositum das
Ballett, die Quelle also und deren Eigenständigkeit, klar formuliert.
Somit kann auch die Vielgestaltigkeit und Farbigkeit des Gesamtwerks
assoziiert werden. Ja selbst das schlichte, alleinstehende "SUITE" auf
der ersten Notenseite ist nichts anderes als ein, wenn auch nicht näher
spezifizierter, Hinweis auf das Ganze.
Soweit so gut, eine einfache Sachlage bisher. Keine Undeutlichkeit,
nichts dergleichen, ein Schillern wohl, aber ein gewolltes, nicht
ein verschwommenes.
Auf die RMV-Ausgabe folgte als nächste Stufe die Erstausgabe der
revidierten Edition des Londoner Boosey & Hawkes-Verlags. Sie bleibt
der Darstellung der RMV-Originalausgabe noch erkennbar verpflichet,
d.h., zum einen entspricht die Titelfassung auf der Titelseite der
RMV-Version, zum andern sieht die Graphik auf dem Frontdeckel wie folgt
aus (Nachbildung nach der StPa, der originale Einband der DiPa war
nicht greifbar):
PULCINELLA
SUITE
(Abbildung: Tafel 3)
Wie zu sehen, ist "Pulcinella" durch die Größe abgesetzt, steht be-
tont für sich und ist mittels der Schriftgestaltung als Quelle ver-
deutlicht. "Suite" wirkt, wohl auch dann, wenn wenn man die originale
RMV-Fassung nicht kennt, wie ein Untertitel. Und auch die Titelseite der
frühen B & H-Ausgabe vermittelt grundsätzlich kein anderes Bild:
PULCINELLA
SUITE POUR PETIT ORCHESTRE
D'APRÈS PERGOLESI
Doch mit dem StPa-Druck vom März 1961 beginnen sich die Verhältnisse
in Richtung "Pulcinella Suite" zu verschieben. Auf dem Deckblatt noch
nicht, hier bleibt die Fassung der B & H-Erstausgabe zunächst erhalten.
Doch auf der Titelseite steht nun (man beachte auch die Umschaltung zur
englischen Sprache):
PULCINELLA SUITE
for Orchestra
after
J. B. Pergolesi
Diese Fassung hat noch eine andere Eigenart. Der Titelzusatz weist
nämlich eine nicht unerhebliche Kürzung auf: Es fehlt der Hinweis auf
die Besetzungsstärke "small" (= "petit", siehe hierzu unten unter
Besetzung).
Das war nun ein Stand der Dinge mit Konsequenzen: Die käufliche DiPa
vom April 1970 (eine Neuauflage) erhielt auf dem Deckblatt "pulcinella
suite" (in Kleinschrift, auf EINER Zeile); dem folgte schließlich das
Deckblatt der StPa um 1979 mit "PULCINELLA SUITE", beide Wörter in
GLEICHER Schriftstärke, ebenfalls auf einer Zeile (Abbildungen siehe
Tafel 3). Die zuletzt genannte Auflage von ca. 1979 ist die jüngste der
von mir eingesehenen StPa-Drucken, doch ist davon auszugehen, daß
der Sachverhalt in der StPa noch heute so besteht, denn die neueren
Leihdirigierpartituren (siehe die Abbildung oben und die Auflistung
weiter unten) zeigen kein anderes Bild.
Somit ist mit "Pulcinella Suite" die nüchterne Version erreicht, die
als fast selbständiger Begriff nicht mehr direkt auf die Quelle hin-
weist, und somit auch nicht mehr auf den ersten Blick den Gesamtkomplex
und dessen weiten Rahmen vermittelt wie "Suite de Pulcinella". Und hier
sollte daran erinnert werden, daß Strawinsky beim Komponieren sehr oft
von den Kompositions- und Bewegungsbildern Ballett und Tanz ausging, das
soll heißen, es ist zu vermuten, daß die "Suite-Zusammenstellung" mit
Sicherheit nicht ganz abseits solcher möglichen Absichtsvorstellungen
entstanden ist. Suite de Pulcinella: Die erste Notenseite (= Seite 3)
hat diesen bunten, märchenhaften Titel glücklicherweise nie verloren.
Ein Aspekt zu guter Letzt noch: Zumindest auf Uneingeweihte, auf mit
der Sache wenig Vertraute, dürfte "Pulcinella Suite" wie ein eigen-
ständiger Werktitel wirken. Als ein bloßer Titel wie jeder andere, ein
bloßer Titel eben.
Hier setzen natürlich Fragen ein. Zum Beispiel: Was ist zu diesem
Thema aus überlieferten autographen Materialien zu lernen? Vielleicht
ist "Pulcinella Suite" ein Begriff, den auch Strawinsky vorherrschend
verwendete? Wenn ja, dann wären über die Bedeutung neue Gedanken ange-
bracht. (Beachte: In Ausführungen wie dieser hier zu Pulcinella ver-
wende ich, da der Zusammenhang bekannt ist, statt Suite de Pulcinella
häufig die deutsche Kurzform: Pulcinella-Suite. Die Macht der Gewohn-
heit ist eben schwer zu durchbrechen.)
"d'après J. B. Pergolesi"
Über "d'après J. B. Pergolesi" noch viele Worte zu verlieren, ist un-
nötig. Desungeachtet steht aber Pergolesi noch immer auf der ersten
Notenseite (= Seite 3) der wohl neuesten DiPa-Ausgabe "printing 2002"
(zu dieser siehe weiter unten).
Natürlich wird die praktische Neuformulierung dieses überholten
Titelanhängsels - das im Prinzip sehr überlegt und kompositorisch ge-
rechtfertigt war und ist! - noch Kopfzerbrechen bereiten. Wie die im
Hauptartikel wiedergegebene Satz- und Quellenaufstellung zeigt, sind
außer Alessandro Parisotti alle dort genannten Komponisten auch mit der
Suite verbandelte Urheber. In der Reihenfolge der Ersterscheinung in
der Suite sind das:
Domenico Gallo (ca. 1730-1768?)
Giovanni Giambattista Pergolesi (1710-1736)
Jacob Unico Willem van Wassenaer (1692-1766)
Carlo Ignazio Monza(1696 [1686?]-1739)
Hier bedenke man: Die Orchestersuite beginnt und endet (wie das Ge-
samtballett und auch die drei Duo-Suiten) nicht mit einem Werk Pergole-
sis, sondern mit Vorlagen Gallos, und zwar, da eine Sonatensammlung die
Quelle bildete, wurde ein Satz aus der ersten Sonate für den Beginn und
einer aus der letzten Sonate für den Schluß entnommen. Ist das Zufall?
Zweifellos eine Merkwürdigkeit. Auf sie wies die Barry S. Brook in
seinem hier schon mehrfach erwähnten Artikel von 1988 hin. Wie dem auch
ist, es ist ein äußeres Zeichen dafür, wie sehr Gallos Musik die Suiten,
die ja Kurzfassungen sind, prägt (abgesehen vom komponierenden Arrangeur
Strawinsky selbstverständlich).
Im Fall des Gesamtballets wurden schon weiter oben Vorschläge zur
Lösung des Titelproblems unterbreitet, hier bei der Suite könnte in
Betracht gezogen werden, diesen Pergolesi-Titelgebungsanteil einfach
wegzulassen; es dürfte angesichts der Situation die Kurzform "Suite de
Pulcinella" ausreichen (weniger gut jedoch das flache "Pulcinella
Suite"). Absolut keinen Grund für einen Verzicht gibt es aber bezüglich
der Besetzungsangabe. Hier hat der Komponist deutlich gesagt, was er
will. Und darüber sprechen wir jetzt.
Streichorchesterbesetzung - klipp und klar
Er will den Noten nach keinen Geigenchromschmelz à la Karajan oder
gar einen schneidend-hellen 888-oder-so-Hz-Sound. Man beachte die Be-
setzungsangaben genau: Der Komponist hat neben dem Solo-Quintett für das
Streicher-Ripieno, das offensichtlich keins sein soll, eine Besetzung
vorgeschrieben - 4 erste Violinen, 4 zweite Violinen, 4 Bratschen (Vio-
len), 3 Viololoncelli und 3 Kontrabässe -, die eine feinnervige, leicht
abgedunkelte Färbung erklingen lassen soll und die zudem, man höre nur
genau in die Partitur hinein, einen "unperfekten", vorbarocken, einen
nicht verschwimmenden, nicht zu homogenisierten Kammerstreicherklang
herbeizaubern kann. Der Einzelne in der Gruppe soll noch vernehmbar
sein. Das will der Komponist ganz offensichtlich, die Praxis sieht aber
bei Sinfonieorchesterapparaten mit ihren Geschäftszwängen und vertrag-
lich zur Verfügung stehenden großen Streicherreservoirs oft anders aus,
zumal heute in der Regel Großsäle mit Klangmasse, mit Tonausfüllteppi-
chen zu bedienen sind. Ein sich beißendes Spiel: Kompositorische Absicht
auf der einen und Konzertanforderungen auf der anderen Seite. Unlösbar.
Demgegenüber brauchten aber bei Tonträgeraufnahmen eigentlich keine
Zugeständnisse gemacht zu werden, man könnte dem Komponistenwillen
locker Ausdruck verleihen, und in der Tat sind hier - günstige aufnahme-
technische, durchhörbare Bedingungen vorausgesetzt - die Ergebnisse
gelegentlich recht erfreulich.
Und wie ist der Besetzungswunsch in den Partituren formuliert? Seite
[2] der RMV-Originalpartitur gibt die Absicht des Komponisten klar wie-
der, die Streicherbesetzung lautet 4,4,4,3,3, außerdem ist "EN TOUT 33
PERSONNES" nicht zu übersehen (vgl. die Abbildung). Mit dieser Forderung
gehen die Partituren lange Zeit zusammen. Doch spätestens eine Leih-
Dirigierpartitur, aus der Zeit 2000 bis 2002 stammend (im Folgenden mit
"um 2001" gekennzeichnet, Beschreibung später an anderem Ort), schert
aus der Harmonie aus, es fehlt das Einleitungsblatt: Die Partitur be-
ginnt mit der Seite [3], das ist die erste Notenseite. Die nächste Auf-
lage, die vom Äußeren her ansprechende Leih-DiPa von 2002, hat zwar eine
Titelseite (sie ist identisch mit dem Deckblatt), aber die Rückseite ist
"blank", man vergaß offenbar, die Seite [2] mit den Satz- und Beset-
zungsangaben zu übernehmen. Somit fehlt in den wohl neuesten Leih-Parti-
turen jeder Hinweis darauf, daß ein kleines Streichorchester zu wählen
ist.
Offenbar ein Lapsus, er hat aber eine Entsprechung. Denn schon sehr
früh ging, wie unten in der Aufstellung "Suite de Pulcinella (Pulcinella
Suite, Pulcinella-Suite)" zu sehen, aus dem "für kleines Orchester" das
entscheidende Wort "small" verloren. Der Verlust ereignete sich auf der
Titelseite, und zwar bei der Ablösung der französischen durch die engli-
sche Titelfassung. Das war 1961. Und seitdem ist der Wunsch des Kompo-
nisten nach einer kleinen Besetzung aus der Titelgebung gestrichen.
Man kann nicht behaupten, das Fehlen der Angabe zur Besetzungsstärke
fiele nur neurotischen Dokumentaren auf. In der erwähnten unvollständi-
gen Partitur von um 2001 jedenfalls trug ein guter Geist, wohl ein Diri-
gent, vor die Instrumente des Quintette d'Orchestre die spezifischen
Angaben ein: 4,4,4,3,3. So auch in der deutschen Leihpartitur "1" der
Auflage von 1970 (zu dieser siehe weiter unten), obwohl hier die Seite
[2] mit den Besetzungsangaben überhaupt nicht fehlt, nur so zur verdeut-
lichung offenbar. Anders auf der Seite [2] der Schwesterpartitur "4"
(auch zu dieser siehe weiter unten), hier wurden auf der Titelseite die
gedruckten Besetzungn Angaben (4,4,4,3,3) handschriftlich zu 6,6,5,4,3
aufgestockt. Fazit: Die Angaben werden gelegentlich ernst genommen.
Manchmal aber auch nicht. Zumindest aber dienen sie als Anhaltspunkte.
Und dementsprechend sollte bei der Erstellung der nächsten Auflage dar-
auf geachtet werden, die Besetzungsangaben wieder einzufügen (im Zusam-
menhang mit der Ballett-Leihdirigierpartitur "B4" wird dieses wichtige
Thema noch einmal aufgegriffen, siehe weiter unten).
Ein Hinweis auf eine aufschlußreiche Tatsache sei noch angefügt: Auf der
ersten Notenseite der Suite-Partitur von um 2001 sind zu zwei Aufführun-
gen die Streicherbesetzungen notiert worden, von der gleichen Hand, si-
cherlich war es der Dirgent, der die Notate niederschrieb. Das erste ist
mit 2002 datiert und bezieht sich auf das Israel Philharmonic Orchestra:
10,8,6,6,4; bei dem nachfolgenden Eintrag, wohl auch von 2002, ist die
Orchesterangabe nicht zu identifizieren, als Streicherstärke ist ver-
merkt: 8,6,5,4,2. Wie zu sehen, wurde zwar erheblich an der Komponisten-
vorstellung vorbeibesetzt, aber beide Einträge zeigen doch wohl auch,
das Thema wurde immerhin wahrgenommen.
Unmißverständlich: 4,4,4,3,3
Suite de Pulcinella, Studienpartitur 1924, Seite [2], Ausschnitt
(Gesamtansicht: Tafel 3)
Durée 22 minutes
Laut des vorliegenden Materials taucht in der "revidierten Edition"
(1949) eine Angabe zur Aufführungsdauer auf, "Durée 22 minutes", die
die RMV-Partitur (Beleg: StPa) nicht enthält. Er steht auf der Seite
mit den Angaben zum Inhalt und zur Besetzung. Diese Seite (Seite [2])
ist französisch gehalten, und dieser Sachverhalt ist in der DiPa von
1970 und auch in der von StPa-Auflage von um 1979 noch so, obwohl in-
zwischen (1961) auf der Titelseite der Wechsel der Titelgebung zur eng-
lischen Sprache stattfand.
Demgegenüber ist in der Tripelausgabe "Ballet Music" von 1999 auch
diese Inhalts- und Besetzungsseite anglisiert worden, und aus der Angabe
zur Dauer wurde nun - leicht eingeschränkt - "Duration: c. 22 minutes".
Das ist nur eine Kleinigkeit, eine Belanglosigkeit vielleicht, aber es
darf daran erinnert werden: Die Entscheidung sollte auch bei solchen
Nebensächlichkeiten grundsätzlich beim Komponisten liegen. Hat er die
1949er Angabe gewünscht? Wenn ja, wieso dann 1999 das "c."?
Die beiden eingesehenen neueren großformatigen B & H-Leihdirigierpar-
tiuren besitzen den Spieldauerhinweis nicht, aber wohl nur aus dem ein-
fachen Grund: Die betreffende Seite - Seite [2] - mit den beiden Anga-
benfeldern "Table de Matière" und "Orchestre" (= Besetzungsspezifika-
tion), die, wie schon gesagt, die 1970er DiPa noch hat, fehlt (Weiteres
zu diesen Partituren siehe unten).
Strohmann Albert Spalding
Albert Spalding (1888-1953) war ein amerikanischer Geiger und Kompo-
nist, der in den 1920er und 1930er Jahren zahlreiche Plattenaufnahmen
gemacht haben muß. International bekannt geworden ist er nicht. Von dem
Renomée eines Fritz Kreisler war er weit entfernt. Doch tauchen in anti-
quarischen Angeboten immer wieder seine Aufnahmen auf, so daß man ver-
muten kann, eine Diskographie seiner Aufnahmen könnte zur Tonträgerge-
schichtsschreibung einen aufschlußreichen Beitrag leisten.
Auch in der Strawinsky-Welt begegnet man ihm, im Notenbereich genauer
gesagt. Er spielte da, vom heutigen Standpunkt aus gesehen, eine kleine,
aus der persönlichen Sicht Strawinskys gesehen, aber eine sehr bedeuten-
de Rolle. Es ging damals ums Urheberrecht und damit ums Geld. Spalding
gab für Strawinsky einen Copyright-Strohmann ab. Doch auch zu dieser
- und gerade zu dieser - seiner Funktion gibt es offenbar keine Unter-
suchung, sie aber wäre wichtig. Denn Strawinsky und seine immerwährenden
Bemühungen um Copyright-Sicherungen (und ums liebe Geld) sind - wie
wohl bei jedermann - ein Kapitel für sich, in seinem Fall wahrscheinlich
ein sehr komplexes. Ganz besonders das schwer durchschaubare USA-Rechts-
geflecht der damaligen Zeit, als die Pulcinella-Partituren veröffent-
licht wurden (1924), ist vermutlich so leicht nicht zu verstehen. So
galten und gelten beispielsweise dort vor 1924 veröffentlichte Noten als
frei (public domain), und einer, der das damals bekanntermaßen und weid-
lich nutzte, war Edwin F. Kalmus, New York. In diesem Verlag erschienen
z.B. die Partituren des Petroushka [sic] und der 1911er Feuervogel-
Suite.
Strawinsky glaubte nun, mit Hilfe eines amerikanischen Strohmanns,
der mit "Fingerings by" und "Edited by" in seinen Noten auftauchte, sei
in den USA (und wahrscheinlich nicht nur dort) dem - wie er es sah - un-
rechtmäßgigen Abkupfern seiner Werke von vornherein ein Riegel vorge-
schoben. Inwieweit derlei Maßnahmen (es gab noch weitere) nötig oder
sinnvoll und letztlich von Erfolg gekrönt waren, wäre sicherlich eine
Studie wert.
In den RMV-Ausgaben des Balletts und der Suite de Pulcinella lautet
der Strohmann-Hinweis wie folgt:
Pergolesi - Strawinsky
Edited by Albert Spalding, New York
Diese getürkte Bearbeiterangabe auf der ersten Notenseite (= Seite 3)
der beiden Partituren, die eine Urheberschaft vortäuscht, blieb lange
unangetastet. Doch 1966 kommt bei der "revidierten" (eher: durchgesehe-
nen) B & H-Neuausgabe der Gesamtballett-DiPa Bewegung in die Sache. Ein
Spalding verliert spätestens hier jede Plausibilität (zumal er 1953 ge-
storben war). Demgemäß wird der Hinweis auch gestrichen, ein neuer
ziert nun die erste Notenseite rechts oben:
IGOR STRAVINSKY
after Giambattista Pergolesi
revised 1965
Dem folgt 1970 die DiPa der Orchester-Suite mit einer englisch-fran-
zösischen Mixtur (siehe unten), die offenbar mindestens bis 2010 keine
Änderung erfuhr, das jedenfalls läßt die im Leihverkehr befindliche wohl
letzte Auflage der Partitur, "printing 2002" genannt", vermuten.
IGOR STRAVINSKY
d'après Giambattista Pergolesi
revised 1949
Man beachte hierbei den unveränderten Pergolesi-Bezug, und das, ob-
wohl bei B & H schon Anfang der 1990er Jahre in der Pergolesi-Angelegen-
heit warnende Informationen eingegangen waren, wie das Vorwort zu der
von B & H etwa 1995 herausgegebenen Wiederveröffentlichung der "Suite
pour violon et piano d'après des thèmes, fragments et morceaux de
Giambatista Pergolesi" zeigt (beachte: so der Originaltitel, und da auch
"Giambatista", üblicher: Giambattista; zu dieser seit langem fälligen
Wiederveröffentlichung, der erste Nachdruck seit 1926, siehe weiter oben
im Teil 3 unter "Kochanski-Suite" die Kurzinformation). Diese Suite er-
schien 2007 (Datierung nach Amazon) auch in der Sammlung "The Stravinsky
Violin Collection [-] 9 Pieces for Violin and Piano", veröffentlicht von
Boosey & Hawkes, "distributed by" Hal Leonard, Milwaukee, Wisconsin (152
+ 63 S., Besprechung bei Gelegenheit). Wie gesagt, schon damals im
ersten Nachdruck, war in einem Vorwort, nachdem auf Pergolesi als dem
Urquell hingewiesen worden war, darauf aufmerkam gemacht worden, daß
nicht alles von ihm stamme, und der damalige Hinweis, ist in der
genannten Ausgabe von 2007 zitiert:
Latterly, it has been shown that many of these pieces
were composed by other eighteenth-century Italian
composers. Of the movements Stravinsky selected for
the Suite only the Serenata and the Minuetto are
genuinely Pergolesi's material; the Introductione and
the Finale are by [Domenico] Gallo, the Tarantella is
by [Fortunato] Chelleri, and the Gavotta is by an un-
identified composer.
Sicherlich, das Bemühen um aktuelles historisches Wissen ist anzuer-
kennen, aber es hängt selbst 2007 immer noch hinterher. Schon spätestens
1988, seit der Veröffentlichung der hier schon mehrfach erwähnten, von
Barry S. Brook erstellten Pulcinella-Dokumentation, ist bekannt, daß die
Tarantella nicht von Chelleri stammen kann, sondern laut des damaligen
Wissenstands höchstwahrscheinlich von Jacob Unico Willem van Wassenaer,
wobei diese Autorschaft seit 2003 durch eine Dokumentation von Albert
Dunning nach historischem Ermessen als gesichert anzusehen ist. Außer-
dem ist, wiederum spätestens seit Brook, bekannt, daß der Komponist der
Gavotta samt der Variationen Carlo Ignazio Monza ist.
Die angesprochene "Kochanski-Suite" wurde 1926 vom RMV herausgege-
ben, doch die Copyright-Information der beiden B & H-Wiederveröffent-
lichungen sagt diesbezüglich etwas anderes, sie lautet "© Copyright
1926 by Hawkes & Son (London) Ltd.". Und damit wären wir beim nächsten
Problempunkt angekommen. Doch bevor ein neues Thema angegangen wird,
noch ein Nachtrag zu "Albert Spalding" und seiner angeblichen Editions-
arbeit.
Spalding, für was eigentlich?
Das ist die entscheidende Frage. Prüft man die Partituren, ob die
des Ballets oder die der Orchestersuite, kommt ein Staunen auf: Für was
hätte der Komponist Strawinsky denn Spalding musikalisch eigentlich
brauchen können? Gab es irgendetwas zu "edieren"? Diese Fragen sollen
im Folgenden angegangen werden. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Ein
Spalding war eigentlich überflüssig. Zudem kämen für dessen mögliches
Arbeitsfeld, wenn überhaupt, nur wenige Takte in Frage. Einzelheiten in
Vorbereitung.
Zum Stand "Pulcinella-Suite, Editorisches" siehe Abteilung 4
Weiter
[intro04m]
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