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Werkliste: White oder Kirchmeyer?

   Natürlich ist die Frage gehörig überspitzt. Aber es gibt wohl keinen
Zweifel, daß White einen erheblichen Autoritätsvorsprung hat. Sein
grundlegendes Werk kam zu Lebzeiten Strawinskys heraus, nicht nur das,
es kam nicht 1940 heraus, sondern 1966, einem Rückblick nicht ganz
unähnlich. Whites Arbeit schöpfte aus dem Strawinsky-Brunnen viel
frisches Wasser. Und der Schöpfungsvorgang gilt auch noch für die zweite
Auflage von 1979. Diese ist ohne die Nachlaßwelt, verkörpert und verwal-
tet von Frau Strawinsky und Robert Craft (dem Freund, Berater und Quasi-
Sohn), überhaupt nicht denkbar. Die Strawinsky-Forschung wird demnach
alles dransetzen müssen, die Verzahnung Whites mit der Strawinsky-Welt
gründlichst zu untersuchen. Sollte sich dabei herausstellen, daß die
1979er Werkaufstellung auch nur einen Hauch von Authentizität besitzt
(meiner Meinung nach ist es mehr als ein Hauch), dann hat alles andere
nur noch beigeordnete oder sichtende Bedeutung. Und damit würde meine
Auflistung hier ebenso nahezu Makulatur wie meine Vorstellung von der
Einordnung der Bearbeitung der Wolf-Lieder (vgl. oben).
   Einen ersten Eindruck von der Tiefe der Beziehung bietet die Danksa-
gung Whites (1966 = 1979) und es wäre nicht verkehrt gewesen, wenn K.
den Anfang jeden Abend im Bett aufgesagt hätte. White beginnt die Auf-
zählung der Personen, denen er Dank schuldet, so:

   First and foremost are Mr. Robert Craft, whose initial suggestion in
   1958 led to the writing of this book, and the composer himself who
   encouraged me to go ahead and gave me generous permission to quote
   from his published writings. I am deeply grateful to both of them for
   finding time ... to answer queries and help resolve doubtful points
   that were referred to them. In addition they have made available the
   text of Robert Craft's "Catalogue of Manuscripts (1904-1952) in
   Stravinsky's Possession" and allowed me to print it as an appendix.

   Bei allen Überlegungen darf auch nicht übersehen werden, daß der
biographische Teil in Whites Buch nur etwa 30 Prozent ausmacht, der bei
weitem größte Teil ist der Werkteil (Register of Works).


Schübe

   Es gibt im Leben seltsame und verschlungene Wege. "Besonderer Dank",
so schreibt Kirchmeyer in seiner "Dankadresse", gebühre u. a. "Herrn
Wilhelm Schlüter vom Internationalen Musikinstitut in Darmstadt". Dieser
hielt allerdings einst, d. h. in der oben angesprochenen Rezension, von
Kirchmeyers Werkauflistung implizit nicht so sehr viel. An K.s Bollwerk
"Dankadresse" fällt weiterhin auf, daß für ein solches Werkverzeichnis-
Unternehmen die tragenden Verlagsfundamente nicht genannt sind. "Meist"
sei er in Bibliotheken "großer Zuvorkommenheit" begegnet. Ach? Hier und
da, wie erste Blicke zeigen, fehlt ihm denn auch die eine oder andere
entstehungs- und editionsgeschichtliche "Kleinigkeit", die man eigent-
lich nur dort erhalten kann, wo er sich offenbar wegen des Mangels an
"großer Zuvorkommenheit" nicht so bedienen konnte. Klar, die Fundament-
verwalter wollen ihre Siebensachen für eigene zukünftige Großtaten
zusammenhalten (Gesamtausgabe).
   Kirchmeyer 2002 zeigt dennoch, soweit die Entwicklungs- und Ausgaben-
geschichte der Werke betroffen ist, gegenüber 1958 einen enormen
Innovationsschub. 16 Jahre später ist er allerdings noch nicht weiter
gewesen, denn ein paar der entwicklungsgeschichtlichen Anmerkungen in
seinem 1974 veröffentlichten Reclam-Bändchen "Strawinskys russische

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Ballette" sind wirklich zu seltsam. Die Frage "wie kommt's" ist eine
logische Folge dessen, was man sieht. Die Schübe sind so massiv, daß man
geneigt ist, anzunehmen, K. sei in die eine oder andere Ideen-Schmiede
geraten. Er selbst bietet, soweit ich das sehe, keine Angaben über
etwaige Vorbilder oder Einflüsse. Zwar hat er viele Bibliotheken besucht
oder konsultiert, aber für Phantasie-Anstöße dieser Art erscheint das
alles zu bieder. Eine der Ideenquellen könnte allerdings das fachkundige
IMD gewesen sein. Hier könnte K. so manches an Land gezogen haben, was
für die Richtung seiner Arbeit Relevanz besaß, denn das vergleichsweise
winzige Institut war für ihn, wie er schreibt, eine seiner "wichtigsten
Bezugsbibliotheken", in einem Atemzug genannt mit - man glaubt es kaum -
acht schwindelerregenden Archiveminenzen, darunter die Paul Sacher Stif-
tung in Basel (Strawinsky-Archiv), die British Library in London, die
Bibliothèque Nationale in Paris und die Library of Congress in Washing-
ton. Klein aber oho, die Library of Congress at the Böllenfalltor.
   Vielleicht sollte jetzt so am Rand die Frage erlaubt sein, ob K.
meine "Notedition" von 1985 gekannt haben kann. Die Antwort kann eigent-
lich nur nein lauten. Das Darmstädter Exemplar jedenfalls kannte er
nicht, wie mir Wilhelm Schlüter, der das Buch besitzt, mitteilte. Auf
das Titelblatt hatte ich geschrieben: Ansichtsexem- / plar für Herrn /
Schlüter. 28.5.85. / DP / Bitte nur privat / benutzen. Eine nächste
Frage wäre, ob die Existenz überhaupt irgendwie ermittelbar war. Antwort
wiederum: eigentlich nicht. Ein vollständiges Exemplar steht im Noten-
archiv einer Rundfunkanstalt. Es gab im August 1985 mit der Sacher-
Stiftung einen Briefwechsel, in dem die "Notedition" erwähnt wurde.
Weitere Möglichkeiten fallen mir nicht ein.
   Eine günstige Gelegenheit auch schnell auf mein völlig antiquiertes,
Platz fressendes "Fußnoten-Sternchenlayout" hinweisen. Damit nur ja kein
Mißverständnis entsteht, es stammt nicht aus K. 2002 - und auch nicht
aus K. 1958, da nämlich werden Zahlenfußnoten verwendet. Natürlich
schreiben wir heuer immerhin das Jahr 2002. Damals 1983 bis 1985, in der
EDV- und PC-Embryonalzeit, fiel mir keine brauchbarere Möglichkeit
ein (mehr über die Zeit siehe weiter unten).
   Für Bierernst und erzprofessoralen Putz habe ich eine große Schwäche.
"Ergographisch" nennt K. seine Methode. Der Klappentext gibt das
Aufgedrallte weiter, sein Verzeichnis sei eine "Strawinsky-Ergographie".
Wen wundert's dann, wenn K. ein Etwas namens "Numerierungs-Methodik"
diskutiert und dabei grübelt, eine Methode könne auch "in die Aporie
laufen". In "einigen begründeten Einzelfällen" (Lektor!?) bietet er eine
Umschrift (Transliteration, Transkription) der russischen Schrift an, im
allgemeinen aber lehnt er sie ab (1958 hat er nur Umschriften, da war er
in diesem Punkt noch nicht so abgehoben). Daß nicht jeder die russische
Sprache beherrscht bzw. die kyrillischen Buchstaben lesen kann und
vielleicht in dem einen oder anderen (diskographischen) Fall einer Hilfe
bedarf, für einen solch simplen Wunsch ist K. 2002 nicht empfänglich.
Wer das eine tut, braucht ja das andere nicht zu lassen. Eine E-Mail-
Adresse nennt K. (oder der Verlag) eine "elektronische Postanschrift"
und im Rahmen der Textstelle, in der K. eine Diskographie ankündigt
(androht?), fällt die Formulierung "in Form von festen Tonträgern".
Gibt's auch flüssige oder gasförmige? Natürlich nicht, er sagt es zwar
nicht, aber er will ausgrenzen und zwar Tonbänder (und dergleichen,
sollte man für ihn hilfreicherweise hinzufügen). Apropos Diskographie.
K. bleibt sich bestimmt treu. Hoffentlich stellt ihm keiner ein
Pulverfaß unter den Tisch, auf dem er sitzt.





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Schwarz, braun, weiß

   Zum "Ebony Concerto" in K.s Verzeichnis drängte es mich natürlich
sofort. Man lernt sicherlich so manches, aber dennoch muß ich auch
warnen. Vieles, was da in den Abschnitten "Bemerkungen" und "Jazz-
Verständnis" steht, ist so weit von meinen Anschauungen entfernt, daß es
mir wohl nie möglich sein wird, darauf näher einzugehen. Es wäre sinn-
los. Wer (deutsches) Musikwissenschaftler-Blech sucht: Hier wird man
fündig. Meine Verwunderung fängt übrigens schon bei den ersten Sätzen
damit an, daß K. über die Herkunft des Worts "Ebony" ein Rätselraten
veranstaltet. K. sollte sich mal erkundigen, mit was "Ebony" alles beti-
telt wurde (und wird). Dazu Tip 1: Die bzw. Das Ebony, Chicago. Tip 2:
Ebony Rhapsody (1930, nach Liszts 2. ungarischer Rhapsodie von John-
ston/Coslow komponiert), aufgenommen von Ellington 1934, 1940 durch
Basie "international" ausgestrahlt, Solist: Prez. K.s Unkenntnis schon
dieser einfachsten aller einfachen Tatsachen drückt ganz offenkundig
eine Bewußtseinsdistanz aus. Noch ein Satz zu Prez: Ständig dessen
Anwender als Vorzeigenotbehelfe für irgendein wichtigtuerisches Jazz-
wissen vorgesetzt zu bekommen (bei K. sind es Charlie Christian und
Charlie Parker), hat mittlerweile meine Fassungsgrenze weit überschrit-
ten. Was die werkbewertenden, -einstufenden Ausführungen betrifft, so
sollte K. mal Fotos von den Herman-Strawinsky- bzw. Goodman-Strawinsky-
Sessions zur Hand nehmen (u. a. in Down Beat, Opus Strawinsky). Dabei
bedenke er beim Betrachten der Schnappschüsse mit, daß in den schrift-
lich überlieferten Äußerungen Strawinskys neben höchst widersprüch-
lichen, auch schwer bis kaum verständliche und sogar unverständliche
offensichtlich keine Seltenheit sind. Wenn man es auch nicht wahrhaben
will (z. B. Strobel, Igor Strawinsky, 1956, S. 22 f.), es stimmt im
Vergleich doch: Strawinsky war ein "Bildungsmensch" sondergleichen; er
verfiel vielfach sogar, korrekte Wiedergabe vorausgesetzt, in ein
merkwürdig unkonkretes, verschraubtes, schillerndes Gerede, und schon
von daher muß das schriftlich überlieferte Wort im Einzelfall sehr
genau auf seinen "Echtheits-, Wahrheits- und Sinngehalt" geprüft werden.
Der Schutz der Flucht war Strawinsky sehr vertraut, auch im Wort. Aber,
so hoffe ich, ein Heuchler war er Woody Herman und Benny Goodman gegen-
über nicht. Dennoch möchte ich (mit drei Jahren ausgebombt) an dieser
Stelle nicht versäumen, auf einen Artikel von Carlos Widmann hinzuwei-
sen: War Strawinsky ein Faschist? Amerikanische Reflexionen über das
Musikleben unter Hitler und Mussolini (Süddeutsche Zeitung, SZ am Wo-
chenende, Feuilleton-Beilage, 1./2. Oktober 1988, Nummer 227, S. [147]).
   Da wir gerade das Nazi-Thema am Wickel haben: von fünf herausragenden
Personen, die in diesem Verzeichnis vorkommen, ist mir bekannt, daß ihre
Biographie auch unter der Perspektive "nationalsozialistische Vergangen-
heit" gesehen oder erforscht wird. Zwei der fünf sind hinlänglich
bekannt: Furtwängler und von Karajan. Was die anderen drei anbelangt,
war ich sehr enttäuscht, so etwas zu hören. Recherchen dieser Art tref-
fen meist auf starke Hindernisse, weil bei solchen Personen die ent-
scheidenden Unterlagen im Regelfall schnellstmöglich "gesäubert" worden
sind. Somit geht oft genug das Wissen um die "Vergangenheit" über einen
gewissen Kenntnisstand nicht hinaus. Bevor mir also nicht trifftige
Nachweise veröffentlicht vorliegen, werde ich die Namen der anderen drei
nicht nennen.


Louis Cyr

   K. bringt es fertig, nach seinen sicherlich sehr fleißigen Recherche-
bemühungen, den Namen Louis Cyr unerwähnt zu lassen; man findet ihn

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nirgends, im Register nicht, nicht im Sacre-Abschnitt, noch nicht einmal
im Kapitel Feuervogel - denn für die Genfer Faksimile-Ausgabe der Hand-
schrift der Feuervogel-Ballett-Partitur verfaßte Cyr einen zweisprachi-
gen kritischen Bericht, der seines gleichen sucht: Le manuscrit auto-
graphe de L'Oiseau de Feu (1910), Un envol printanier de bon augure /
The autograph manuscript of The Firebird (1910), On the fiery wings of a
promising spring (von diesem Bericht existiert übrigens eine leicht
revidierte Fassung). Auch die 1983 erschienene französische Fassung von
White 1979, für die Cyr einen Teil der Werkdaten überarbeitet hat,
scheint Kirchmeyer nicht zu kennen. Das alles nenn' ich in der Tat eine
reife Leistung. Cyr: Top secret. Wo schwebt dieser emeritierte Professor
eigentlich?
   Louis Cyr, Jesuiten-Pater, betreut im indianisch-kanadischen
Kahnawake Mohawk Territory die ihm Anvertrauten. Das ist seine Berufung.
Aus der Sicht der Strawinsky-Forschung darf man, ohne, wie ich weiß, dem
Seelsorger damit zu nahe zutreten, ein "leider" anklingen lassen. Ich
lernte Louis in Frankfurt in musikwissenschaftlichen Seminaren kennen.
Als wir Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre im Deutschen
Rundfunkarchiv oder im St. Ignatius-Haus unsere unzähligen Strawinsky-
Sessions hatten, kam ich oft nicht aus dem Staunen raus. Es gab viele
Szenen, wie die folgende, die ich nun frei wiedergeben werde. Dies tue
ich nicht aus einer Laune heraus, ich ziehe daraus für die Strawinsky-
Forschung eine ziemlich ernste Lehre [1]:

   Feuervogel-Session, Ballet 1910

   LC: DeePee (englisch ausgesprochen), hast du das eben gehört?
   DP: Was?
   LC: Die zweiten Violinen eben, Boulez läßt sie "fis" spielen.
   DP: Spul mal zurück. - Unglaublich.
   LC: Übrigens, in Strawinskys erster Feuervogel-Einspielung von
       1928 wird offenbar sowas wie ein Dazwischen gespielt.
   DP: Nein!?
   LC: Doch. Und Bernstein hat bei seiner Einspielung der 1919er Suite
       "fisis".
   DP: Louis, are you kiddin' me?
   LC: No, DeePee, es ist so!

   Dazu eine kurze Passage aus dem "Hauptteil", dem "Industrietonträger-
teil", und zwar aus dem Werkvorspann zu den Feuervogel-Suiten (sachli-
cher Stand: 1982):

   1) Introduction: Ziffer 3, Takte 4/5

   In der Suite 1919 steht in den Violinen II eine Folge, wie man sie
   vom 1910er Ballett her nicht gewöhnt ist: fis-g-fis_fis-g-g (Ballett:
   fis-fisis-fisis(!)-fis-fisis-fisis, siehe unten das Notenbeispiel).
   Ein Fehler, wenn ja wo? 1910 oder 1919? Obwohl instrumental anders
   gefaßt, scheint die 1945er Suite-Fassung diese neue Folge der 1919er
   Suite praktisch zu bestätigen, obere Violinen I: fis-g, untere Vio-
   linen I: fis-g-g (aber siehe dazu unten Irving).

   a) Violinen II: 1910 (bzw. 1911), Takte 16/17; KlA, Takte 15/16 (aber
      die zweite Ligatur fehlt!?)

      Notenbeispiel: System a)



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   b) V II: 1919, Ziffer 3, Takte 4/5

      Notenbeispiel: System b)

      Beachte: In der Partitur fehlt - und somit auch hier - im Takt 5
      das # vor f (ebenso fehlt es in den Violen II vor d).

Igor Strawinsky, Der Feuervogel, Notenbeispiel
aus Ballett 1910 bzw. Suite 1911 und Suite 1919
 
   Die Auseinandersetzung der Dirigenten mit den beiden "Möglichkeiten"
   ("Varianten") bringt unterschiedliche Ergebnisse.

   Interessante Beispiele (bezogen auf ältere Schallplattenaufnahmen):

   Bernstein entschied sich bei seiner Einspielung (1957) der 1919er
   Suite für die Ballettversion (a). Boulez und Haitink fügten in ihre
   Aufnahmen (1975 bzw. 1973) des 1910er Balletts offenbar im Anschluß
   an die beiden Suiten rückwirkend die Version (b) ein. Boulez (1967)
   nahm dagegen die 1911er Suite zwar (richtig) mit Version (a) auf,
   aber die "unteren" Violinen II spielen über dem "fisis" "b" anstatt
   "his"!  Strawinsky selbst hat in seiner "Mischsuite" von 1928 eben-
   falls die Version (a), wobei allerdings das fragliche "fisis" glis-
   sando-artig von "fis" nach "fisis" hochgezogen erscheint. Schließ-
   lich Irving (1959): Er setzte in die 1945er Fassung (wie 1919: Ziffer
   3, Takte 4/5) die Ballettversion (a) ein, das heißt, er änderte das
   "fis" der unteren Violinen I zu "g" (= fisis) ab!
   [Ende des Ausschnitts]

   Wer sich mit der 1956 begonnenen Neuen Mozart-Ausgabe vertraut ge-
macht hat, weiß, welch eine ungeheure Fleißarbeit das ist, die eigent-
lich, wenn man genau hinsieht, schon etwa 200 Jahre zu Gange ist. Ge-
messen an dem, erscheint mir eine kritische Strawinsky-Gesamtausgabe ein
nahezu unvollbringbares Unternehmen. Jeder, der sich daran wagt, muß die
Einspielungsgeschichte erforschen, und dies nicht nur, soweit Eigenauf-
nahmen Strawinskys vorliegen. Auch die wichtigsten "Fremdaufnahmen" der
Zeit (und zum Teil danach) wären hinzuziehen. Strawinsky war kein Ana-
choret, er pflegte zu Interpreten vielfachen Austausch. Was sich hier an
Arbeit auftun mag, läßt sich kaum erahnen. Es darf nicht der vergleich-
bare Fehler gemacht werden, der bei der Erarbeitung der Neuen Mozart-
Ausgabe unterlief. Dort vernachlässigte man, wenn Autographe vorlagen,
weitgehend zeitgenössische Noteneditionen, deren damalige Prestige-
einstufung - und somit deren Bedeutung - den Herausgebern offensichtlich
nicht wichtig genug erschien.
   Begreift man bei Strawinsky die zwingende Notwendigkeit, Tonträger
als Quellenmaterial ernst zu nehmen, wird nicht ausbleiben, daß bei den
wichtigen Tonträgerarchiven eines Tages Nachfragen eintrudeln. Stra-
winsky wird nicht nur als ein bedeutender Komponist des 20. Jahrhunderts
angesehen, man feiert in ihm auch eine wichtige kulturelle Persönlich-
keit überhaupt. Und so wird man die Archive fragen, inwieweit sie der
übergeordneten Verantwortung, Zeitzeuge gewesen zu sein, nachgekommen
sind. Die Sessions mit Louis Cyr haben mich das Fürchten gelehrt. Wohl

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nicht das schlechteste Ergebnis. Der Lese-Musikwissenschaftler muß bei
Strawinsky zu träumen aufhören, hier sind Ohren gefragt.

   [1] Anmerkung März 2005: Louis Cyr beendete Mitte 2003 in der
   Indianergemeinde Kahnawake sein Amt als Pfarrer. Nach Montreal
   zurückgekehrt, wird die Ruhe im "Ruhestand" wohl nicht zu ruhig
   werden. Pater Cyr beginnt, wie ich merke, sich wieder etwas genauer
   mit Strawinsky zu befassen. Zumal ja auch Jahrhundertanlässe
   bevorstehen: Feuervogel (2010), Petruschka (2011) und Sacre (2013).


R.M.V. 459: A la mémoire de Claude-Achille DEBUSSY (1920)

   Einige Töne scheinen in Strawinskys Werk selten zu sein. Ich meine
den hoffnungslos schimmernden Silberstreif hinter den Dingen. Hoff-
nungslos? Das Jenseits des Diesseits als Abseits (Reihenfolge belie-
big?), solcherlei zerbrochene Klänge übte der musikalisch vernunftori-
entierte Tüftler und Macher I. S. offenbar nicht tagtäglich. Psychische
Grenzgängerei, das Funkeln des wohl Auswegslosen, gibt es das in
Strawinskys Werk? In seiner sogenannten Hauptschaffenszeit? Den Zweifel
also, gibt's den? Aus der Ferne weht Seltsames herüber. Sind es Schüt-
zens "Die Sieben Worte Jesu Christi am Kreuz" oder dessen "Ely, Ely,
Ely, lama asabtani" aus der Matthäus-Passion? [2] Ist es Mozarts "esto
nobis praegustatum in mortis examine" aus dem "Ave verum corpus"? Nein,
weit gefehlt, es ist die Urfassung der "Symphonies d'instruments à
vent", von der in Anlehnung an andere K. 2002 unüberprüft, kurz und bün-
dig kundtut, sie sei nicht gedruckt. Das stimmt aber nun ganz und gar
nicht: Es gibt oder gab sogar wahrscheinlich drei Drucke bzw. Probe-
drucke und es existiert mindestens eine wichtige Kopistenabschrift! Die
(Probe-)Druckfassung von ca. 1933 habe ich, während ich dies schreibe,
rechts neben mir liegen. Kurzum: Das meiste, was K. 2002 in seinen
Abteilungen "Besetzung", "Bemerkungen" und "Fassungen" zu diesem Thema
zu sagen hat, ist entweder nebensächlich, fehlerhaft oder Makulatur. Man
halte sich hier im Verzeichnis an den Werkvorpsann. Ich glaube, ich
weiß, was K. in der Pariser Bibliothèque Nationale und in der Londoner
British Library ("wichtigste Bezugsbibliotheken", siehe oben) zumindest
gelegentlich gemacht hat: (Gott sei Dank) geschlafen. Dazu paßt, wenn K.
sagt: "Die Anfänge ... liegen im Dunkeln." Also: "Symphonies d'instru-
ments à vent" in K. 2002 Flop Nr. 3

   [2] "Ely..." zitiert nach Heinrich Schütz, Die Matthäus-Passion, In
   der Originalfassung für Einzelstimmen und a-cappella-Chor zum ersten
   Mal herausgegeben und den Teilnehmern des zweiten deutschen Heinrich
   Schütz-Festes 1929 in Celle gewidmet von Fritz Schmidt
   Kassel/Basel [1929] (Bärenreiter-Ausgabe 300)


Animam serva (Die Seele, bewahre sie)

   Ein Verzeichnis, dessen Veröffentlichung fast zwei Jahrzehnte
zurückliegt und das nicht einmal einen regulären Redaktionsschluß hatte,
kann natürlich nicht als aktuell gelten. Umsoweniger als es sich um ein
Rundfunkverzeichnis handelt, denn RundFUNK und Dauer scheinen Gegensätze
zu sein. Man fragt sich, warum das so ist. Ist es nicht so, daß im Funk
das Ephemere bereits im Begriff enthalten ist? Doch vergessen wir nicht:
Jede Welle, alles Gefunkte hat einen Ursprung - und es gibt nicht nur
das endlose Schwarz des Kosmos.
   Wieviel sich in der Zeit seit 1985 im deutschen Rundfunk verändert

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hat, ist mit wenigen Worten gar nicht abzuhandeln. Ein paar beispiel-
hafte, wahllos herausgeholte Memozettel mögen aber doch der Anschauung
dienen. Wie jeder weiß, sind im Gefolge der "Wende" Rundfunkanstalten
hinzugekommen, die hier natürlich fehlen. Damals gab es für mich, und
ich bin sicherlich keine Ausnahme, traurigerweise und notgedrungen nur
die westliche Rundfunksphäre. Vier Rundfunkanstalten haben nicht nur
ihren Namen verändert: RIAS Berlin, Deutschlandfunk Köln, SDR und SWF.
Das SDR-Studio Heidelberg-Mannheim zog von Heidelberg nach Mannheim.
Aber nicht nur die äußere Struktur wandelte sich. Auch im Innern zeigen
sich mannigfache Veränderungen. Etliche Veranstaltungsräume wurden neu
erstellt, etwa die Philharmonien am Gasteig und in Köln, der Saal der
Nürnberger Symphoniker im Colosseum. Studios wurden still gelegt, so
hat beispielsweise der HR kein Kammermusikstudio mehr (Studio 3). Es
entstanden rund um einige Anstalten neue Orchester, das RSO Berlin wurde
umstrukturiert, es gibt ein "SWR Sinfonieorchester", eins in Stuttgart
und eins in Freiburg. Natürlich wurden auch Orchester- und Chorleiter-
stellen mannigfach neu besetzt. Die Produktionsaufgaben vieler traditio-
neller Anstalten haben sich erheblich verändert, Kammermusikproduktionen
wurden stark gedrosselt oder eingestellt. Die Aktivitäten der noch ver-
bliebenen Konzertreihen wären zu sichten, es gibt auch Neues, z. B. das
Forum Neue Musik (HR). Zahlreiche Rundfunkaufnahmen erschienen auf CDs,
wobei die CD dabei ist, die alte "Bänderstruktur" zu verdrängen. Über-
haupt hat die digitale Aufzeichnung nahezu vollständig die analoge er-
setzt. Digitalisierung heißt in der Tat das zukünftige Sternbild. Das
gilt auch für die Archivierung, hier existiert die Karteikarte nur noch
als "Altbestand", der nach und nach "ausgelesen" wird mit dem Ziel (zum 
schlimmen Leidwesen späterer Forschungen): Papierkorb.
   Trotz aller Änderungen aber ist die Grundstruktur des deutschen
Rundfunks, so wie sie sich in der Nachkriegszeit und zur Zeit des
Wirtschaftswunders herausbildete, immer noch klar zu erkennen. Mit
anderen Worten, das Ephemere scheint nicht nur sein ontologisches "An-
sich", die Verflüchtigung, zu sein, sondern auch in sich sein Gegenteil,
die Konsistenz. Wir haben guten Grund zum Hoffen. Hoffen wir, daß die
neurotische Vermasssung nicht alles zuwuchert. Hoffen wir auch, daß das
föderalistische Prinzip der "Öffentlich-Rechtlichen" erhalten bleibt und
nicht einem Einheitsbrei weicht. Eines unterschätze man nie, daß nämlich
die Gefahr der Zentralisierung wie die Polio immer latent vorhanden ist.
(Ergänzung März 2003: Und kaum sagt man das, verschwindet auch schon ein
weiterer traditionsreicher Nachkriegsnamen. Nach dem "Rundfunk Im Ameri-
kanischen Sektor" hat es nun sein Schulterschlußpendant, den "Sender
Freies Berlin", erwischt. Wieder eine Fusionsgleichung, diesmal: SFB +
ORB = RBB, in Worten: Sender Freies Berlin + Ostdeutscher Rundfunk Bran-
denburg = Rundfunk Berlin-Brandenburg)


PC-Steinzeit (Urgestein für meine HTML-Freunde)

   Wirkliche Hilfe ist selten geworden. Aber ich erhielt sie, der
Augenblick bewegt mich noch heute. Und das, obwohl nun schon alles
17 Jahre zurückliegt.
   Mich packt gelegentlich das Vagabundische in mir, gegen Mitternacht
loszuziehen. Dann kann's kreuz und quer durch Frankfurt gehen. Zu Fuß
oder per Pedale. So auch Anfang der 1980er Jahre. Als ich bei der
ausufernden Arbeit an der Strawinsky-Diskographie den Boden unter den
Füßen verlor, setzte ich mich auf's Rad und landete ungezählte Male vor
einem IBM-Laden. Ihn gibt's schon lange nicht mehr. Er befand sich dort,
wo die Große Gallusstraße vom Areal der Taunusanlage (Sitz der Hessi-
schen Zentralbank und anderer Großbegüteter) herkommend in den Roßmarkt

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bzw. Goetheplatz mündet. An der rechten Mündungsfront konnte man mich
nachts vor den beiden Schaufenstern stehen sehen. Was wir sahen - ich
war selten allein da, meist drückten sich auch andere dunkle Gestalten
an den Scheiben die Nasen platt - das waren auf Bildschirmen primitive,
meist giftgrüne, Graphikbewegungen und außerdem, schemenhaft, graue
Blech- und Plastikkasten: Die legendären IBM-PCs, im Gegensatz zu den
Heim- und Spielecomputerchen "Bürocomputer" genannt, alle unbezahlbar.
15 000.- DM aufwärts (weit aufwärts), und das ohne Bildschirm und
Drucker, aber doch schon mit dem damaligen 64 KB-Traumarbeitsspeicher
ausgestattet. Gegen einen saftigen Aufpreis konnte die Grundkiste mit
dem Luxus eines zweiten 5 1/4 Zoll-Floppy-Laufwerks bestückt werden. Die
Speicherfähigkeit der Disketten war sensationell: 320 KB. Angeblich
locker der Platz für ein ganzes Buch, oder mehrere. Unglaublich.
   15 000.- DM aufwärts, und das DAMALS! Wer in den Adorno-Spätkreisen
konnte sich eine solche Summe als Eigenbesitz überhaupt vorstellen? Eine
Diskette kostete 13,80 DM. Dafür schien aber alles gediegen, edel und
vom Feinsten, selbst die Diskettenschachteln hatten Luxusdesign. Die
beiden einzigen IBM-Schachteln, die ich je hatte, habe ich noch. Also,
wie dem nun auch war bzw. für mich nicht war, mir wurde klar, mit einem
Commodore C 64 und seinen Artgenossen war das, was hinter der IBM-
Schaufensterscheibe auf der Mattscheibe des vorsintflutlichen (damals
fortschrittlichsten) Bildschirms vor sich ging, nicht zu machen. Ich
begriff schnell, nur damit könnte man, wenn überhaupt, eine diskogra-
phische Arbeit wie die strawinskysche DAHEIM bewerkstelligen. Die
überall gepriesenen C 64er und Co. hatten da keine Chance. Bits, Bytes,
MS-DOS, Basic, IBM-XT und dergleichen Sachen drehten in meinem Kopf die
Schleifen. Die Art der Literatur, in die ich nun in den Fachbuchläden
den Kopf steckte, war klar. PC-Mania. Vom Geist der Zeit, hieß eine
berühmte Rundfunk-Sinnsuchserie der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts.
Die Titel der ersten Bücher, die ich jetzt kaufte, sagen einiges über
den den Sinn der frühen 80er:

   Charles Platt, Computer-Fieber! Die Kunst, sich voll auf den
      Mikrocomputer einzulassen und trotzdem einen kühlen Kopf zu
      behalten
      München 1984 (Heyne Computer Bücher Nr. 15/15, Taschenbuch),
      171 (172) S. (Englischer Originaltitel: Micromania)

   Gilbert Obermair, Heim-Computer Report '85, Die wichtigsten Systeme,
      Einkaufsberatung - Preise, Entwicklungstendenzen, Clubadressen
      München 1984 (Heyne-Buch Nr. 08/4981, Taschenbuch), 127 S.

   Christine Kerler, Das Computerbuch für Frauen - Einstieg in die
      (noch) männliche Welt der Mikrocomputer
      München 1985 (Heyne Computer Bücher Nr. 15/13, Taschenbuch),
      202 (203) S.

   Wie man sieht, ich war zwar dabei, aber ich konnte mir die geeigneten
Kisten nicht leisten. Etwas "dabei" war ich eigentlich schon seit
September 1978. Denn seit dieser Zeit tippte ich, mit einem "Terminal"
an einer IBM-Großrechner-Anlage hängend, U-Musik-Plattendaten ein. Nun
aber ging's drum, zu Hause auf den zukünftigen Stand zu kommen.
   Wo befinden wir uns jetzt in meiner Bio chronologisch? Wir befinden
uns im Mai 1985 und wie in der 1985er Vorbemerkung zum Verzeichnis
beschrieben, besaß ich die Strawinsky-Arbeit Abteilung Rundfunk als
Überspielung auf zwei "Dump-Bändern" (sogenannte 1 zu 1-Überspielungen
auf Bandspulen). Wie nun weiter? Das war damals eine Frage in einem
schalltoten Raum. Die Überspielung mußte auf Disketten, das war klar.

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Allerdings muß man wissen, daß in der PC-Anfangszeit so gut wie nichts
zusammenpaßte, auch arbeiteten damals Großrechneranlagen nicht mit PCs
zusammen, wie das heute üblich ist. Jedenfalls konnte die EDV-Abteilung
eines führenden, weltweiten Industrieunternehmens die Bänder, die Dumps,
zwar anzeigen, nicht aber auf Disketten übertragen. Es begann ein Laufen
von Pontius nach Pilatus. Ich machte mir unendlich Druck: Firmen,
Computerläden, Zeitschriften, Messen usw.
   Schließlich kam der 22. Juli 1985. Ich staunte über eine Broschüre,
dort stand unübersehbar, daß IBM Stuttgart neue Musik unterstützte. Die
gute alte Zeit! Also schrieb ich Big Blue meine Nöte und fügte alle
technischen Einzelheiten, die ich wußte, bei. Hoffen, das kann etwas
sehr Elementares sein, lernte ich - und es war nicht vergebens. IBM, ja
IBM, antwortete, zügig. Einige Briefe, Telefonate, dann kaufte ich im
IBM-Laden am 19. August 1985 für 298,91 DM die oben genannten Disketten-
Schachteln: 19 5.25"-Disketten, Double Sided, Double Density, 40 Track,
Soft Recorded. Sowas hatte ich noch nie gesehen, geschweige denn in der
Hand gehabt. Warum nur 19 Disketten? Weil 20 den dafür bereitgelegten
Betrag von 300.- DM überschritten hätten. Und warum so viele? Ich traute
den Dingern nicht. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Das
nächste Datum, der 21. August, ist mir mehr als gegenwärtig. Ich fuhr
mit Herzklopfen per Straßenbahn zur IBM-Niederlassung Lyoner Straße. Die
beiden Bänder wurden morgens eingeladen und dann bat man mich, mit zur
Hand zu gehen. Ich hatte noch nie vor einem PC gesessen, kurze Einwei-
sung in was? In PC-DOS 2.0! Mein Gott! Ich begann Datei für Datei rüber-
zuladen. Um Ordnung zu bekommen, wurde der Fundus auf 5 Disketten ver-
teilt. Leider war es wegen der unglücklichen Systemdiskrepanz Großrech-
ner - PC (EBCDIC - ASCII) damals noch nicht möglich, die Sonderzeichen
zu retten. Ich wußte aber, das alles war mit Fleiß reparabel. Haupt-
sache, ich hatte das Verzeichnis in Gänze auf den zukunftsträchtigen
Disketten zu Hause. Die Preise der PC-Schreibbüros, die die Marktlücke
witterten, kannte ich nämlich, und ich selbst hätte wohl nie die Kraft
aufgebracht, alles noch einmal zu schreiben, von der mühseligen Korrek-
turarbeit ganz zu schweigen.
   Der Helfer in der Lyoner Straße war ein Diplom-Ingenieur, dessen Name
mir natürlich bekannt ist; bei ihm möchte ich mich hier nach 17 Jahren
noch einmal herzlichst bedanken. Wie ich schon sagte, die Erinnerung
bewegt mich noch heute und ich hoffe, diese kleine Geschichte macht das
deutlich.
   Es ging mir damals so ähnlich wie heute. Heute habe ich hunderte CDs,
aber keinen CD-Player. Um sie zu hören, muß ich außer Haus gehen. Und
genauso hatte ich damals Disketten, die ich mir aber nur angucken
konnte. Oder noch früher: Als ich in der zweiten Hälfte der 50er Jahre
meine ersten LPs kaufte, waren das für mich mekkaide Gegenstände. Ich
bestaunte die aus den USA importierten Pappdeckeltaschen, die Liner
Notes und die innenliegenden Scheiben wie Reliquien. Bei den IBM-
Scheiben, die in teuer wirkendem grauen Wattepapier steckten, war das
nicht anders.
   15 000.- DM aufwärts. Wie weiter? 1985 war für mich nicht nur ein
Jahr des frankensteinschen Grauens, es wurde, wie schon beschrieben,
durch Initiative auch ein Glücksjahr. Und ich hatte noch einmal Glück.
Die C 64er Firma Commodore brachte ihren IBM-kompatiblen PC-10 auf den
Markt. Das war DIE Sensation! Zusammen mit dem programmierbaren 9-Nadel-
Drucker Star SG-10 DAS Eldorado! Ich kratzte dafür 5023.- DM zusammen
und die 15 000.- DM weit aufwärts waren umschifft. Der Grundstein für
die Zukunft war gelegt, und dies, obwohl der PC-10 mit seinen zwei
Floppy-Laufwerken schon kurz nach dem Kauf überholt war. Doch diese
Grundausstattung läuft noch heute, sie ist besser als je eine Schreib-
maschine es war. Dem Anfangsset ist zudem die ganze Kontinuität von IBM

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und Microsoft eigen, die bis heute trotz aller Neuentwicklungen überall
zu spüren ist. Andere, damals hochgepriesene Systeme sind längst im Moor
versackt. Man bedenke, selbst auf Windows XP laufen meine alten MS-DOS-
Textdateien noch, wenn ich das will! Wo gibt's denn sowas?
   Auf der IBM-Großrechneranlage stand damals 1985 das Textverarbei-
tungssystem DCF bereit. Es ist ein System, das auf der Schreiboberfläche
mit Punktbefehlen arbeitet. Nun galt es, ein ähnliches Textprogramm zu
finden. Schreibprogramme gab es damals unter MS-DOS wie Sand am Meer,
aber wie ich herausfand, gab es nur eins, das einen möglichst sanften
Übergang zuließ: das zu Recht gerühmte, von Bob Wallace entwickelte,
Shareware-Programm PC-Write. Ich staunte sehr, es war auch in der Lage,
eine Datei von 235 KB aufzuteilen. Denn eine solche Dateigröße war
damals für ein übliches PC-Schreibprogramm eine nahezu unüberwindbare
Hürde. PC-Write, dessen genialer Autor im September 2002 starb, ist ein
reines DOS-Programm geblieben. Die letzte Fassung davon (4.15) entstand
1993. Ich benutze die klassische Version 2.55 von 1985. Zusammen mit dem
Pendant-Programm PC-File 3.0, ein kleines Datenbank-Programm, erstellt
von Jim Button (eigentlich: Jim Knopf), betrat ich damals das Neuland
gefahrlos und zukunftsorientiert. Bis heute tun beide Programme, von
denen ich im November 1985 unwissend zunächst deutsche Fassungen für
betrügerisch sündhaft teures Geld gekauft hatte, ihren Dienst. Beide
sind in den genannten amerikanischen Originalfassungen unüberholte
Techniken. PC-Write 2.55 kann auch als Editor verwendet werden, um etwa
HTML-Programme zu schreiben. HTML ist von Haus aus ja auch keine
"oberflächliche" WYSIWYG-Technik (What You See Is What You Get). Gott
sei Dank nicht. Beachte: Dieser Aufsatz ist mit PC-Write erstellt,
befand sich also vor der Umwandlung in die ASCII-ANSI-Zeichen-Allge-
genwart in der MS-DOS-Umgebung, die mit dem ASCII-OEM-Zeichensatz
arbeitet. Hier muß die obige Frage wiederholt werden: Wo gibt's denn
eine solche Kontinuität, eine solche Rücksichtnahme? (Zur Umwandlung,
deren Verläßlichkeit, Handhabung, Schnelligkeit usw. vgl. die Ausfüh-
rungen in www + text.)


Grenzen

   Überall gibt's im Verzeichnis Ecken, wo dokumentarisch Unerledigtes
zu sehen ist. Als Beispiel mögen die vierhändigen Klavierstücke dienen.
Den Nachweisen zu Aufnahmen ist so gut wie nie zweifelsfrei zu entneh-
men, ob die Werke an einem Klavier oder an zwei Klavieren gespielt
wurden. Hat man eine stereophone Aufnahme zur Hand, fällt die Überprü-
fung meist nicht schwer. Bei Monoaufnahmen ist die Sache schon nicht
mehr so einfach. Der weitverbreitete Usus, hinter jeden Namen der beiden
Spieler "Klavier" zu setzen, ist meist eine Automatik und keine sach-
liche Angabe. Steht nur ein einziges "Klavier", weiß man eigentlich auch
nicht viel mehr. Dieser Ungenauigkeit war hier im Verzeichnis nicht zu
begegnen, also steht als Behelf hinter jedem Namen "Klavier" (vgl. bei-
spielsweise Trois bzw. Cinq pièces faciles). Ein wohl überhaupt unlös-
bares Problem ist die Reihenfolgenennung der Spieler; dies gilt im
übrigen auch für die Stücke für zwei Klaviere.


Wie geht's weiter?

   Ich mach' erst mal Pause. Nachgetragen werden sicherlich die Doku-
mente und Literaturangaben. Auch Abbildungen kommen wohl noch hier und
da dazu. Sehr wichtig wäre auch die Vervollständigung der Werkeinfüh-
rungen, was aber wohl gleichzeitig eine Loslösung vom Hauptteil mit sich

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brächte, und dies hieße wohl auch, daß Teile des Hauptteils mit rüber-
wandern müßten. Zahlreiche Aufnahmen aus der Zeit bis 1985 und eine
riesige Anzahl neuer Aufnahmen von 1985 bis heute, die sich bei mir im
Laufe der Zeit ansammelte, könnten eingearbeitet werden. Vorsichtig
geschätzt, bedeutete dies eine Verdopplung der Seitenzahl. Interessant
wäre auch der Weg in die Zeit von 1923/24 bis 1945, damit hätten wir es
mit dem Vorabend der Rundfunkgeschichte zu tun, sähen uns dann das
bizarre Terrain der Weimarer Republik an und beträten schließlich die
verbrannte Erde der Nazidiktatur. Wer die Vororientierungen aufmerksam
studierte, weiß, daß darin schon so manches aus der Zeit von vor 1945
gestreift wurde. Überhaupt wäre eine Überarbeitung und Fortschreibung
der Vororientierungen nicht verkehrt. Gerade aber dieser Punkt erfor-
derte mit Sicherheit erheblichen Rechercheaufwand. Käme das alles, wäre
damit eine Neuabfassung und Umstrukturierung des Verzeichnisses ver-
bunden, denn die gegenwärtige Anlage steht vor dem technischen Bis-hier-
her-und-nicht-weiter. Eines ist demnach sicher: Mit dieser "historischen
Fassung 1985" kann nicht mehr viel passieren. Es wird wohl noch diese
und jene Ver- bzw. Ausbesserung geben, auch im programmatischen, im
HTML-Bereich, aber der Plan ist, die Internet-Ausgabe 2002 in absehbarer
Zeit nicht mehr weiterzuführen.
   Es sei noch einmal darauf hingewiesen: Am Schluß jeder Einheit findet
man Angaben zum jeweiligen Änderungsstand.


Danke

   Ich bedaure, daß ich 1985 in der Vorbemerkung vor lauter Hektik und
Anspannung vergaß, meinen Dank auszusprechen.
   1977 wurden für das Aufnahmenverzeichnis Karteikarten zusammenge-
stellt oder fotokopiert. Auf dieser Arbeit unbekannter Hand beruht meine
Arbeit; ohne originale oder mit Akribie kopierte Nachweise wäre nichts
möglich gewesen, schon gar nicht eine Korrektur nach so vielen Jahren.
Und es ist kaum zu glauben, selbst für die Vororientierungen waren die
Nachweise eine fundamentale Stütze. Danke.
   Natürlich gab es in der damaligen Zeit auch mir namentlich bekannte
Helferinnen und Helfer. Bei ihnen möchte ich mich nun auch schriftlich
bedanken. Die meisten von ihnen halfen mir damals "vor Ort" in den
Schallarchiven: Wolfgang Adler (SFB), Marie Berdych (BR München),
Gerhard Bojanowski (HR-Notenarchiv), Irmgard von Broich-Oppert (RIAS),
Susette Clausing (BR Nürnberg), Jeannot Heinen (SWF), Frank Rainer Huck
(SR), Wolfgang Krust (DRA), Wolfgang Kurth (damals DRA), Klaus L Neumann
(WDR), Dr. Ulf Scharlau (SDR, heute SWR-Stuttgart), Dr. Dieter Siebenkäs
(DLF).
   Ein schwerer Schlag war der Tod Harry Schröders (1986). Schröder
hatte die Vororientierungen korrigierend begleitet. Ihm sei hier für die
damalige Unterstützung noch einmal in memoriam meine Anerkennung ausge-
sprochen. Im Zusammenhang mit Prez mehr über ihn.
   Auch das schriftliche Danke an Louis Cyr soll diesmal nicht vergessen
werden. Er korrigierte nicht nur die Werkeinführungen des unveröffent-
lichten Hauptteils, er teilte auch sein Wissen mit, als wäre das selbst-
verständlich. Etwaige Fehler hier in den telegrammartigen Auszügen der
Werkvorspänne oder in sonstigen werkbezogenen Angaben gehen natürlich
zu meinen Lasten.


Charles Delaunay

   Die diskographische Ecke, aus der ich komme, ist die Jazzdiskogra-

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phie; ihr Begründer ist der Franzose Charles Delaunay, Sohn des Maler-
ehepaars Delaunay. 1936 kam seine Hot Discography heraus. Sie erlebte
bis zur letzten Fassung 1948 einige erhebliche Verbesserungen und
Erweiterungen. Seine wichtigsten Schüler oder Anwender sind (waren)
Brian Rust (England) und Jørgen Grunnet Jepsen (Dänemark). Ich begeg-
nete, als ich im Frühjahr 1975 in Paris nach Prez' Spuren suchte,
Delaunay in den Vogue-Studios; er lud mich dann zu sich in sein Haus
ein, das avec tristesse, hinter Vorgärten vor sich hinträumend, in einem
der typischen Pariser Vororte lag (wenn alles gut geht, im Zusammenhang
mit "Prez in Paris" mehr über ihn).


DP, September/November 2002, Stand: 18.2.2012



K. 2002: der Élégie letzte Strophe

   Ende letzten Jahres begann ich, mir K. 2002 genauer anzusehen. Hier-
bei bestätigten sich schon bei den ersten in Angriff genommenen Werken
die Eindrücke vom Sommer 2002: Die Informationsschiene "Entwicklungs-
und Editionsgeschichte" bedarf teils erheblicher Nachbesserung, teils
sogar der Aufarbeitung. Die Strawinsky-Forschung wird viele lange und
steinige Wege zu begehen haben, bis (mit Hilfe auch von Abhörrecherchen)
Werke oder Werkeinheiten wie der Feuervogel, Le Sacre du Printemps, die
Geschichte vom Soldaten oder Les Noces in ihrer Veröffentlichungsent-
wicklung einigermaßen anschaulich zu überblicken sind.
   Ein paar Worte noch zum Sacre: Was K. 2002 zu dessen Korrektur- und
Editionsgeschichte bringt und sagt, ist wirklich nicht befriedigend,
wirklich nicht! K. hat sich ganz offensichtlich keinen ausreichenden
Überblick über die Ausfertigungs-, Druck- und Ausgabenfolgen verschafft
und dementsprechend kann er auch über die Korrekturabfolgen und -stufen
("Fassungen") keine angemessene Auskunft anbieten. In seinem Augurenrei-
gen fehlt außerdem die letzte Partiturausgabe, der "Neustich" von 1967;
desgleichen fehlt natürlich auch der offensichtlich ein Jahr später er-
schienene neue Klavierauszug (siehe hier im Verzeichnis die Aufstellung
samt den "Errata"). Nebenbei: Daß der erste Klavierauszug (seine Folge-
ausgaben ergeben kein anderes Bild) vielleicht gar nicht oder nicht nur
als ein Auszug gedacht war, dazu weiß K. 2002, man erwartet es mittler-
weile nicht anders, nichts zu sagen. Die Neuausgabe, das sei auch hier
noch einmal vermerkt, ist fast eine neue Fassung (gekennzeichnet ist der
Druck mit "revised 1947"!?).
  Immer deutlicher wird zudem, daß es abwegiger kaum sein kann, den
editorischen Erfassungszeitraum schon vom Arbeitstitel her mit dem Jahr
1971 (Strawinskys Todesjahr) enden zu lassen. In diesem seinen Tun ist
K. natürlich nicht konsequent, kann er gar nicht sein. Zum Register-
apparat, zu seiner Struktur und Vollständigkeit, ließe sich auch noch so
manches anmerken, doch sollte sich jeder, der sich mit K. 2002 kritisch
auseinandersetzt, davor hüten, das Kind mit dem Bad auszuschütten. So
weit so gut - nun sei aber doch noch darauf hingewiesen, daß die ortho-
graphische und Druckfehlerquote in K. 2002 über Gebühr hoch zu sein
scheint; und was man überdies häufig vermißt, ist eine vorgegebenen
Schreibweisen gegenüber je nach Lage erklärt kritische Haltung. Als un-
glaubliches Beispiel für all das mag im Feuervogel die Kunterbunt-Pas-
sage der für das (Gesamt-)Ballett und die Suite 1911 angegebenen Satz-
bzw. Szenenbetitelungen dienen (S. 69 bis 71). Etwas verläßlich sollte
ein Nachschlagewerk dieser Preislage in der Textdarstellung aber schon


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sein, zumindest schon mal da, oder?


DP, 6.2.2003



PS. Sag' nie nie. Aus "der Élégie letzte Strophe" wurde nichts, das
zeigen die nachfolgenden Seiten. Und wenn alles gut geht, dürfte noch
so manches hinzukommen.


DP, 8.1.2007


Fortsetzung










































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