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In Arbeit
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Zunächst so, dann so - und vielleicht doch anders
Meckern kann jeder. Und es kann einer einem damit gehörig auf den
Wecker gehen. Gesundreden oder Schweigen kann aber noch verkorkster
sein. Also: Meiner Meinung nach gehört das gedruckte Werk Strawinskys
einer sehr intensiven, einer institutionalisierten Materialsicherung
unterzogen. Natürlich gibt es (so scheint es zumindest) gute Ausgaben,
aber es gibt auch eine ganze Menge höchst bedenkliche, und zu dieser
letzten Kategorie gehört ohne Zweifel das "Concerto pour Piano suivi
d'Orchestre d'Harmonie" oder wie es spätestens seit dem Klavierauszug-
druck von 1953 so seltsam heißt und wie auch die "revidierten" Ausgaben
der Partitur und des Klavierauszugs betitelt sind: Concerto for Piano
and Wind Instruments ("Konzert für Klavier und Bläser" lautet die nicht
minder eigenartige deutsche Usus-Übersetzung). Nomen est omen? Ja, ein
deutlich vernehmbares Ja! Denn wer ahnt schon, daß sich trotz "Revision"
hinter der neuen, so rätselhaften Titelgebung ein mindestens ebenso
rätselhaftes (ein vielleicht sogar verworrenes) Etwas verbirgt? Ein
Etwas Werk(text) genannt. "Erschreckender Zustand" wird das manch einer
bezeichnen, wenn er die Sachlage etwas näher kennenlernt. Als mir um
1980 herum Louis Cyr dabei half, Strawinskys Werke genauer wahrzuneh-
men, stand nicht zuletzt das Klavierkonzert im Mittelpunkt unseres
Interesses. Das Fazit war schnell klar: Wir hatten es mit einer Ansamm-
lung von Unklarheiten zu tun.
Aber damit nicht genug. Andere Werke haben auch ihre Tücken, manche
davon höchst kuriose, und manche Tücken scheinen nicht einmal etwas mit
dem Notentext zu tun zu haben. Es dürften bloße Arten, Abarten oder Un-
arten von "Praxistraditionen" sein. Man kommt kaum aus dem Staunen raus.
Und so könnte vielleicht hilfreich sein, aus dem Typoskript meiner un-
veröffentlichten Strawinsky-Diskographie (siehe dazu weiter oben) die
eine oder andere Darlegung (editorische Werkeinführung, Aufnahmenbe-
schreibung usw.) ins Web zu stellen. Der erste Versuch gilt dem kom-
pletten "Werkvorspann" des Klavierkonzerts (siehe unten). Weiter oben
findet man im übrigen einen kurzen Ausschnitt aus dem (manchmal etwas
unheimlichen) Feuervogel-Text.
Alle diese damaligen Ausführungen gehen in der Sache nicht über den
Stand von etwa 1982 hinaus und auch für die Web-Wiedergabe sind im
großen und ganzen keine grundlegenden sachlichen Änderungen geplant,
dennoch wird natürlich die eine oder andere Streichung, Einfügung oder
Verbesserung durchaus vorkommen. Allerdings wohl nicht so sehr aufgrund
irgendwelcher Recherchen in seit damals erschienener musikwissenschaft-
licher Literatur, hier soll Zurückhaltung vorherrschen, denn ein Aus-
ufern handelt man sich schnell ein. Dem Wuchs auf eigenem Grund und
Boden mag der Vorzug gelten. Eines ist gesondert zu bedenken: Zumindest
für den Werk-Grunddatenbereich sollten neuere fremde Arbeiten nicht
allzu schnell als Quellen herangezogen werden (z.B. das kommentierte
Werkverzeichnis Kirchmeyers, hier "K. 2002" genannt, näheres dazu siehe
oben). Sollten auf diesem Datengebiet Unterschiede bestehen, so scheint
es derzeit eher besser zu sein, diese stehen zu lassen, als sich über-
eilten Vereinheitlichungstendenzen zu unterwerfen. Selbstverständlich
wäre in wichtigen Fällen zu überlegen, mit Fußnoten zu arbeiten, dort
die Sachlage kurz darzustellen oder zu diskutieren; ob das aber nicht
ein Umstand sondergleichen wird, müßte von Fall zu Fall geprüft werden.
Im beschreibenden Text, bei Textformulierungen und in der Darstel-
lungsanlage sind Änderungen natürlich immer und überall möglich, der
Kern der damaligen Sachverhalte samt der dahinter befindlichen Material-
sammlungen wird ja dadurch nicht berührt. Darüber hinaus ist aber natür-
lich auch nicht auszuschließen, daß ein Text von ehedem auch umfangrei-
chere Korrekturen und Erweiterungen erfährt oder sogar mit allem Drum
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und Dran komplett überarbeitet, also auf einen dokumentarisch neueren
oder sogar aktuellen Stand gebracht wird. Das aber dürfte dann sicher-
lich Knochenarbeit bedeuten. Wie auch immer: Stand und Verfahrensweise
werden jeweils deutlich sein oder kenntlich gemacht.
Man kann nur hoffen, daß derlei Ausführungen Anregungen bieten. Zur
Selbsterbauung oder für die heimische Schublade waren die Typoskripte
von einst eigentlich nicht gedacht. Und auch die Web-Darstellungen von
heute sollten nicht im Cyberspace verpusten. Als nächste Internet-
Übertragungen sind die etwas umfangreichen Typoskripte Le sacre du
printemps, Histoire du soldat und Pulcinella ins Auge gefaßt. Gerade bei
diesen dürften aber Aktualisierungen unumgänglich sein. Ganz besonders
reizen würde mich die Feuervogel-Suite 1911; denn hier gibt es einiges
zu beobachten, hier herrscht reihum Verwirrung pur. Also harren wir der
Dinge, die da hoffentlich kommen werden.
K. 2002 sagt zur Notentextlage des Klavierkonzerts kaum etwas und
zudem nichts Neues. Er kennt offenbar nur das Wenige, das White, 1979,
dazu vermerkt. Das untenstehende Zitat zeigt dies. Wie sehr übrigens K.
hier an White klebt, macht ohne Umschweife ein kleines Detail deutlich.
White weist (etwas unklar) auf die spätere Einfügung des h-Oktavenmotivs
in den Takten Ziffer 7/1 und Ziffer 29/1 hin (S. 318): "... with the
exception of an octave B added on the first beat of the bars at figs. 7
and 29 in the 1950 [nein, spätestens 1929 bzw. 1936] version...". K.
übernimmt diesen Hinweis nicht nur, er gibt die Töne sogar buchstaben-
getreu wieder. Bekanntermaßen ist aber die Tonstufe "b" der englischen
Tonleiter in der deutschen ein "h". (Oder soll gar mit "B" das darauf-
folgende oktavverdoppelte "ais" der linken Hand gemeint sein? Außerdem,
was genau soll denn eigentlich "zwei oktavverdoppelnde B" heißen?)
K. 2002, S. 280:
Revidierte Fassung 1950: Auch die Revisionen des KLAVIERKON-
ZERTES erstrecken sich auf stehengebliebene Druckfehler der
ersten Auflage und auf veränderte italienische Vortragsbe-
zeichnungen und Metronomangaben. Der Klavierpart ist davon so
gut wie nicht betroffen, sieht man von zwei oktavverdoppelnden
B bei Ziffer 7 und Ziffer 29 ab. Im Orchesterpart kommt es zu
geringfügigen Instrumentierungsretuschen, bei denen es sich
vermutlich ebenfalls original um Druckfehler handelt.
Der obigen "Ausführung" über die "revidierte Fassung 1950" folgt auf
"um Druckfehler handelt." ein nicht minder erstaunliches Finale:
Auch wenn die Revision ein späteres Datum trägt [so lauten die
papiernen Verlagsfakten: Revised 1950 / Revised Version (c)
1960], hat sie Strawinsky bereits Ende des Zweiten Weltkriegs
fertiggestellt, weil er das korrigierte Material für seine
Aufführungen in der New Yorker CARNEGIE HALL am 1. und 2.
Februar 1945 benutzte, bei denen er selbst dirigierte und
Beveridge Webster die Klavierpartie spielte.
"Revision [...] bereits Ende des Zweiten Weltkriegs": Klingt alles
sehr nach erarbeitetem Wissen, als über der Sache stehend, doch wie die
unten wiedergegebenen ersten Schritte eines Hinweises auf komplexe
Vorgänge zeigen, ist die Sachlage höchst diskussionsbedürftig. Wirklich,
es ist schon wunderlich dieses schnurzpiepegale Zusammenschreiben, das
man in K. 2002 antrifft: Diese "stehengebliebenen Druckfehler der ersten
Auflage", die "geringfügigen Instrumentierungsretuschen" oder dieses
"vermutlich ebenfalls original" und dergleichen.
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Bevor wir in medias res gehen ein paar Vorbemerkungen. Wenn hinzuge-
fügte Inhalte einer Leih-Dirigierpartitur (Leih-DiPa) angesprochen
werden, ist immer zu bedenken, daß von einer Ausgabe im allgemeinen mehr
als ein Exemplar existiert. Dieser simple Hinweis deutet auf Folgen hin:
Es ist mit teils erheblichen Unterschieden zu rechnen. Deshalb können
weiterführende Ergebnisse nur auf der Basis einer möglichst breiten, im
Idealfall lückenlosen Verfügbarkeit entstehen. Wer jemals Gelegenheit
hatte, Leih-Material (Leih-DiPa und Leihstimmen) einzusehen, begreift
diesen Anspruch ohne jeden Einwand. Es kommen nachträgliche Eintragun-
gen aller Art vor: Verlags-, Kopisten-, Interpreten-, Dirigenten- und
sogar Komponistenkorrekturen bzw. -verdeutlichungen. Herkunft, Geschich-
te und Bedeutung sind zu sichten und gar nicht selten erstmal zu ent-
rätseln, schließlich ist die Wichtigkeit zu prüfen. Alles in allem also
ein Forschungsgegenstand, der unter Umständen einen extremen Zeitauf-
wand beansprucht. Auf ein sehr vertracktes Problem sollte gesondert hin-
gewiesen werden. Die Ausleihbedingungen verlangen im allgemeinen, daß
Eintragungen nur mit Bleistift zu erfolgen haben und daß diese nach
getaner Arbeit wieder auszuradieren sind. Wie dem auch ist, man trifft
auf Bleistift, Buntstift, Tinte, Kuli, Einklebungen, alles kommt vor,
auch unleserlicher Wirrwarr und zerfledderte Abgenutzheit. Besonders
spannend und kompliziert wird die Sache, wenn ausradierte handschrift-
liche Eintragungen - weil sie eine Bedeutung zu haben scheinen - ins
detektivische Blickfeld geraten. Die Arbeit, die aus solch einer Ent-
deckung erwachsen kann, ist leicht vorstellbar. Und schließlich sollte
bedacht werden, daß viele Dirigenten aus eigenen Partituren dirigierten
und dirigieren. Es gibt diesbezüglich etliche Strawinsky-relevante Fälle
und Sachverhalte. Berühmte Beispiele: Pierre Monteux und Ernest Anser-
met. Man sollte noch hinzufügen, daß insbesondere Solisten es sind, die
in der Regel ihre eigenen Noten verwenden. Ja selbst Orchestermusiker
bringen gelegentlich eigene Noten mit (z. B. Kopievergrößerungen), die
womöglich noch aus einer anderen, vielleicht sogar obskuren Verlags-
quelle stammen. Und zu guter Letzt kann man auch auf scheinbar uner-
klärliche Tatsachen stoßen: Gleiche Stimmen offenbar gleicher Ausgabe
und gleichen Drucks zeigen bei der Angabe von harmonisch wichtigen Zu-
satzvorzeichen Differenzen, die sich auch durch einen Vergleich mit
Partituren sogar unterschiedlicher Ausgaben nicht bereinigen lassen.
Im Œuvre Strawinskys halte ich den Begriff "Klavierauszug", "Réduc-
tion", "Piano reduction", "Transcription" und dergleichen für sehr
problematisch. Auch dann, wenn in den Noten z. B. Hinweise wie
"Réduction pour piano à quatre mains par l'auteur" (Sacre), "Réduction
pour piano à deux mains par l'auteur" (Apollon musagète), "Réduction
pour chant et piano par l'auteur" (Mavra, Pribaoutki), "Réduction pour
deux pianos par l'auteur" (Klavierkonzert) oder "Transcription pour
piano par l'auteur" (Rag-time) angegeben sind, ist damit noch lange
nichts über die Stadienentwicklung des betreffenden Werks ausgesagt.
"Klavierauszug" oder "Klaviertranskription" können ganz am Anfang
gestanden haben. Und es kommen sogar kompositorische Eigenständigkeiten
vor (z. B. in den RMV-"Réductions" der Werke Le sacre du printemps und
Apollon musagète). Schott bietet zu Babel eine Klavierfassung, "Klavier-
auszug" genannt, an; dieser "Auszug" ist aber eine Art Particell, das
vielleicht eine frühere Entwicklungsstufe wiedergibt. Man vergesse auch
nicht: Der Komponist hat in der Tat "Klavierauszüge" aufgeführt. Kurz-
um: Allerlei Beobachtungen verstärken immer mehr den Eindruck, daß
(zumindest in sehr vielen Fällen) die "Klavierauszüge" mehr oder minder
eigenständige Werkfassungen sind. Unter dieser Perspektive sollten viel-
leicht auch die geprüft werden, die auf Wunsch Strawinskys entstanden
und sogar jene, deren Entstehungsursachen im gesellschaftlichen oder
freundschaftlichen Umgang mit dem Komponisten zu suchen sind. Hier in
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meinen Ausführungen ist der Ausdruck "Auszug", weil allgemeiner Usus,
zwar nicht verbannt, es wäre aber vielleicht günstig, dessen vermutliche
Problematik nicht aus den Augen zu verlieren. Der "Auszug" des Klavier-
konzerts dürfte zudem einer der typischen Fälle sein; man kann ihn
durchaus begründbar für eine "Fassung für zwei Klaviere" halten (Urauf-
führung: Igor Strawinsky, Piano I, und Jean Wiéner, Piano II, siehe
unten). Im übrigen kannte natürlich der Komponist sehr genau das Problem
der schmalen Kassen. Nicht nur die Geschichte des Soldaten kann hier als
Beispiel dienen, selbst der RMV-"Auszug" des Sacre hat, wenn nicht alles
täuscht, deutlich eine gewisse Nähe zur Denkkategorie "Sparmaßnahme".
1982 gab es in der Musikhochschule München eine Strawinsky-Nacht (siehe
hier im Verzeichnis u. a. unter Petruschka, Begonia Uriarte-Mrongovius).
Derlei Veranstaltungen unter einer Leitidee wie "Strawinsky piano forte"
bieten sich geradezu an, denn im Gegensatz zu vielen anderen Komponisten
der (einstigen) Moderne gibt es bei Strawinsky Klavierfassungen und eben
"Auszüge" zuhauf.
Beachte: Es gibt noch andere Titelprobleme. Die kaum bekannte "Grande
suite de l'histoire du soldat / Arrangement pour piano par l'auteur"
beispielsweise ist ein Auszug aus dem Auszug, wobei eine Untersuchung
zeigt: aber ganz besonderer Art. Also vielleicht nicht das oder doch
das, was der Untertitel sagt: ein Arrangement. (Hier und im vorherigen
Absatz wurde auf Großschreibungen in den Titelgebungen nicht geachtet.)
Ich möchte noch einmal auf Louis Cyr hinweisen. Es ist kaum möglich,
unsere Zusammenarbeit in der Zeit um 1980 herum auseinanderzubröseln;
eines ist jedoch ganz klar, ich war damals eindeutig der Lehrling. Ich
sammelte, faßte "protokollarisch" zusammen und hatte in der Tat alle
Hände voll zu tun, mitzukommen. Cyrs Forschungen und Beobachtungen wur-
den quasi durch mich gefiltert niedergeschrieben. Eine Art Eckermann, so
kommt mir das etwas vor. Das heißt auch, Fehler oder Ungeschicklichkei-
ten können nur mir angelastet werden. In meinem kleinen "Strawinsky-
Archiv" treffe ich überall auf Cyrs Allgegenwart: Briefe, Abschriften,
Aufnahmen, seltene Noten, Broschüren, Kataloge und dergleichen mehr.
Beeindruckend sind auch die zahllosen Korrekturen, oft in rot - Cyr
liebt bei seinen Partiturvergleichen, -eintragungen die Verwendung
mehrerer Farben. Und natürlich fehlt auch Cyrs Notenhandschrift nicht in
meinen Unterlagen. Die Jahre um 1980 haben unzählbare und überdeutliche
Spuren hinterlassen. Die damalige Arbeit war Lernstoff, bildete den
Orientierungsrahmen. Wir diskutierten I. S. vorwärts und rückwärts; auch
hobelten wir anscheinend gegen alle Maserungen. Ich staunte damals gren-
zenlos und von diesem Respekt habe ich keinen Deut verloren.
Ergebnisse der damaligen Zeit sind die Komplexe Feuervogel, Sacre,
Histoire du soldat, Pulcinella, Les noces, Oktett und dergleichen mehr,
alles nachdenkenswerte Stoffe. Nun aber endlich zum "Concerto pour Piano
suivi d'Orchestre d'Harmonie" (in K. 2002 im Titelvorspann und als Kapi-
telkennzeichnung nach alter und falscher Tradition "Konzert für Klavier
und Bläser" genannt). Begeben wir uns also auf die sicherlich abenteuer-
liche Reise ins Land der Partituren- und Aufnahmenvergleiche. Man be-
denke dabei, daß das alles nur erste Schritte und Einführungen sind und
daß solche zu beackernden Gebiete im wahrsten Sinn des Wortes grenzenlos
zu sein scheinen. Zudem vergesse man nicht: Es gibt etliche Vorgänger,
denen wir verpflichtet sind (vgl. dazu auch über das Inhaltsverzeichnis
die "Vorbemerkung" zur 1985er Ausgabe dieses Verzeichnisses).
[063]
Concerto pour Piano suivi d'Orchestre d'Harmonie {1}
Entstehung:
Biarritz, Sommer 1923 - (Hs:) 21. April 1924 (?)
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Sätze (DiPa 1924):
I Lento - Allegro, II Largo, III Allegro {2}
Widmung:
à Madame Nathalie Koussevitzy (DiPa 1924; meistens: KOUSSEVITZKY)
Verlag:
1) DiPa - RMV, Berlin 1924 (Leih-DiPa: R.M.V. 412., Paris)
RMV, Berlin 1936 (Leih-DiPa: R.M.V. 607, Asnières) {3}
Titelgebung (nach Titelseite 1924 und 1936):
Concerto / (pour Piano suivi d'Orchestre d'Harmonie) /
Partition d'Orchestre
2) KlA 2Kl - [RMV, Berlin 1924 (R.M.V. 414, Erst- bzw. Probedruck,
Existenz bislang nur vermutet)]
RMV, Berlin 1924 (R.M.V. 414, Paris-Asnières o. J.
[1924/25?], Asnières-Paris 1929)
Titelgebung (nach Titelseite 1924 und 1929):
Concerto / (pour Piano suivi d'Orchestre d'Harmonie) /
Réduction pour Deux Pianos / par l'Auteur
B & H, New York 1947 (B.& H. 16329, London 9.53) {4}
Bemerkung: Piano I = Solostimme
Uraufführung:
1) KlA 2Kl - Paris, Salle Gaveau, 15. Mai 1924
Igor Strawinsky (Piano I), Jean Wiéner (Piano II)
2) Orchesterfassung - Paris, Théâtre National de l'Opéra,
Concerts Koussevitzky, 22. Mai 1924
Igor Strawinsky (Klavier), Sergej Kussewitzky (Leitung)
Revision/Bearbeitung/Fassung:
Concerto for Piano and Wind Instruments
Revised 1950 (StPa, KlA 2Kl) / Revised Version (c) 1960 (StPa)
Entstehung:
Hollywood, "revised 1950" (?)
Sätze:
I Largo - Allegro, II Largo, III Allegro {5}
Verlag:
1) DiPa - [B & H, London] [1950?] (Leih-DiPa: RMV, Berlin 1936,
siehe oben, Stempel: B & H, London, Hire Library)
B & H, New York 1960 (StPa: B.& H. 18766, London
5.62, London 6.71)
Titelgebung (nach StPa, Drucke/Auflagen siehe oben):
Concerto / for Piano and Wind Instruments / Revised 1950
2) KlA 2Kl - B & H, New York 1947 (B.& H. 16329, England 12.78)
Titel (Titelseite Druck 12.78):
Concerto / for piano and wind instruments / Two Pianos /
revised 1950
Bemerkung: Piano I = Solostimme
Dauer:
20 Minuten (StPa)
{1} Titel nach den frühen Ausgaben: DiPa 1924, KlA 2Kl 1924/25? und
1929; Layout auf den Titelblättern genau genommen und eigenartigerweise
"CONCERTO / (pour Piano suivi d'Orchestre d'Harmonie)". Obwohl auf Ein-
banddeckel und Titelblatt der 1936er DiPa ebenfalls dieser Originaltitel
steht (Fassung mit Klammer), trägt die erste Notenseite eine vermerkens-
werte Variante: CONCERTO / pour Piano et [sic] Orchestre d'Harmonie
(Einzelheiten zu Ausgaben siehe weiter unten). (Beachte: Im Werkdaten-
profil wurde bei den Titelangaben dem originalen Layout nur bedingt
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gefolgt, wortweise durchgehende Großbuchstabenschrift beispielsweise
blieb unberücksichtigt, siehe auch Tafel 1.)
Das so seltsam betont alleinstehende "CONCERTO" der usprünglichen,
heute offenbar verloren gegangenen Titelanlage "CONCERTO / (pour Piano
suivi d'Orchestre d'Harmonie)" könnte einen Sinn haben, nämlich den, zu
verdeutlichen, es handele sich bei dem Werk ZUNÄCHST und VOR ALLEM (der
Form nach) um ein Konzert und mehr oder weniger nachgeordnet, fast zu-
fälligweise, so quasi nebenbei, um ein Klavieronzert, ein Klavier-samt-
Orchester-Konzert, wobei dann wohl der Auszug für zwei Klaviere als eine
andere Fassung, als die zweite Realisierung mitzubedenken sei (siehe
hierzu weiter oben). Schon Strobel fiel das ungewöhnliche "suivi" auf
(Igor Strawinsky, 1956, S. 55-56). Es deute an, "daß das Soloklavier
eine dominierende Rolle" spiele, aber "nicht wie im romantischen Virtu-
osenkonzert", "sondern im Sinne des bewegungsmäßigen, motorischen Kon-
zertierens der Concerti von Bach und Vivaldi". Diese Erklärung will mir
nicht so richtig einleuchten. Was steckt wirklich in dem "SUIVI d'Orche-
stre d'Harmonie"? Mit = avec? Begleitet von? Sicherlich, aber nicht nur.
Was noch? Auch Louis Cyr staunt über "this little detail", über "such an
innocent little 'triviality'", und wundert sich dann auch noch zu Recht
über das schillernde "d'ORCHESTRE d'HARMONIE!" (E-Mail vom 22.7.2005,
Großschreibung und Ausrufungszeichen von ihm). Wie man sieht: Ein Titel,
eine Besetzungsangabe - und ein paar Fragen.
Und dazu noch eine Annonce des Russischen Musikverlags von 1926. Sie
scheint einige Einsicht in die Dinge zu offenbaren, trotz der beiden
Kapital-Enten, den Leuten Petruschka und Le sacre du printemps als
Suiten verkaufen zu wollen. Die Klavierkonzert-Titelgebung jedenfalls
sieht nicht nur wegen des "Harmonie-Orchesters" ganz passabel aus, mit
ihr scheint vielmehr irgendwie und insgesamt der "Nagel auf den Kopf ge-
troffen" zu sein: Klavier-Konzert / mit Harmonie-Orchester. Man weiß gar
nicht, wie man zu staunen aufhören soll. Es klingt wie nachgeschoben:
Klavier-Konzert zwar, ABER eins mit Harmonieorchester! Daß einst stock-
steife Klassik-Gesetzeshüter schon allein beim Gedanken an ein "Harmo-
nie-Orchester" allerhand Ungemach verspürten, geht einem spätestens hier
so richtig auf, und das Naserümpfen dero Exzellenzen über den Unterhal-
tungsorchester-Sündenfall hatte ja schließlich auch Erfolg, es kam ein
zurechtgestutztes "and Wind Instruments" daher (via Serenaden-Look hoch-
gedeutscht in Pinguin-Frack samt weißer Querfliege: "und Bläser"). Nein,
dann lieber in Richtung Russischer Musikverlag (muß ja nicht gleich auf
die Petruschka- und Sacre-"Suiten" ausgedehnt werden).
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1931 veröffentlichte der Russische Musikverlag ein von Herbert
Fleischer verfaßtes Strawinsky-Buch, das sicherlich noch heute lesens-
wert ist. Bei etlichen Äußerungen allerdings verstehe ich überhaupt
nicht, was er sagen will. Wie auch immer, was mir an Fleischers Schrift
insbesondere wichtig erscheint, ist die Warnung davor, die Strawinsky-
sche Musik als "konstruktivistisch" zu deuten. Strawinsky der Tonpoet,
das ist in dem Buch der rote Faden. Natürlich bezieht sich Fleischers
Meinung nur auf das Schaffen bis 1931, aber gedichtet, erzählt hat
Strawinsky bis ans Lebensende. War er doch (fast) immer, bei allem
Tüfteln, Sammeln, Zusammen- und Zurechtbasteln, bei aller Ökonomie,
Geometrie, Architektur, Berechnung, "Mathematik", bei allem "Kopf",
zunächst einmal eher ein Musik-, Klang- und sogar Märchenerzähler, ein
moderner halt (was immer das ist), puls-, rhythmusinteressiert, auch im
sakralen Bereich, manchmal wird's allerdings (ant)arktisch-rasierklin-
genscharf, aber daneben (oder dagegen) auch beruhigend ruhig, und sogar
"volkstümlich", z.B. in den Four Norwegian Moods (1942). Harrison Kerr,
Erstrezensent der AMP-Ausgabe (1944), Notes, Juni 1945, Seite 179/180,
ist ziemlich verdutzt und hilft sich u.a. mit "very similar to Grieg at
his simpelst" weiter (dabei blieb's in der High-brow-Dünkelei im wesent-
lichen bis heute). Strawinsky, ein "Komponist" (componere = zusammen-
setzen), ein "Arrangeur" (arrangieren = anordnen, einrichten), ein
Schlagzeuger, ein Jongleur, ein Spieler (kommt von "Spiel"), so etwas in
der Art war er sicher, vielleicht sogar durch und durch. Fleischers Buch
nun hat ein "Chronologisches Verzeichnis der Werke Igor Strawinskys" und
darin findet man auf Seite [291] für das Klavierkonzert den folgenden
Titel "CONCERT für Klavier mit Blasorchester"!
Gar nicht so schlecht diese unter dem Dach des RMV rund um den Titel
"CONCERTO / (pour Piano suivi d'Orchestre d'Harmonie)" anzutreffenden
Sichtweisen und ins Deutsche gebrachte Vorstellung der Dinge.
Herbert Fleischer, Strawinsky
Berlin 1931, 1. und 2. Auflage (Russischer Musikverlag, R. M. V.
526), 286 [293] S., 2 Tafeln, Notenbeispiele (etliche Faksimiles),
chronologisches Werkverzeichnis (s.o.), Schallplattenverzeichnis
{2} In den verschiedenen DiPa- und KlA-Ausgaben unterlagen etliche
Metronomangaben und beschreibende Tempovorschriften einem Wandel. Und
auch einige der prinzipiellen Tempovorschriften, der sogenannten "Satz-
bezeichnungen", erfuhren Änderungen. Vielleicht läßt sich sogar eine Art
Entwicklung ableiten.
White, 1979, gibt eine Gegenüberstellung der Tempovorschriften zweier
Korrekturstufen, allerdings ist die Zuordnung irreführend. Was er unter
"1924 version" listet, bezieht sich in Wirklichkeit auf die KlA-Ausgabe
von 1929. Was er unter "1950 version" angibt, ist größtenteils schon
1936 da, manches sogar schon in der DiPa von 1924.
Satzvorschriften der hier besprochenen Ausgaben:
DiPa 1924 : I Lento - Allegro, II Largo, III Allegro
1936 : I Largo " " "
"1950" : " " " "
1960 : " " " "
KlA 1924/25?: [I] Largo - Allegro ("Allegro" von einem Kopisten? als
"Allo" - "llo" wellig doppelt unterstrichen - nachge-
tragen), II Larghissimo, III Allegro
1929 : [I] Largo - Allegro (jetzt gedruckt), II Larghissimo,
III Allegro
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1978 : I Largo - Allegro, II Largo, III Allegro
Näheres zu den Satzvorschriften der DiPa (StPa) 1960 und des KlA 2Kl
Druck 1978 (beide "revised 1950") siehe Anmerkung [5].
Am 14. Mai 1924 wurden in einer "Soirée chez la Princesse de
Polignac" drei Werke Strawinskys vorgetragen. Punkt 2 des Programms lau-
tet wie folgt (man beachte die [sic]-Hinweise):
2. CONCERTO pour Piano et [sic] Orchestre d'harmonie.
1. lento [sic] - 2. largo - 3. allegro.
(1re Audition). [sic]
MM. STRAWINSKY et WIENER.
(Quelle: Jean Wiéner, Allegro Appassionato, Paris 1978 (Belfond),
221 [223], Faksimile: S. [56])
Während seiner ersten Amerikareise (5. Januar bis 14. März 1925)
zeichnete Strawinsky in New York für Rollenklavier den ersten Satz auf
(Duo Art 528 G, vollautomatische Künstlerrolle, 7'13). Die Tempobezeich-
nungen lauten dem Vernehmen nach Largo und Allegro.
{3} Die DiPa und der KlA 2Kl (Piano I = Solostimme) haben im Laufe
ihrer Editionsgeschichte einige Korrekturstufen durchlaufen. Diese
Stufen erfolgten allerdings nicht parallel, sondern ziemlich unabhänghig
voneinander in unterschiedlichen Abständen. Das merkwürdige, sonderbare
Ergebnis ist, daß im reinen Notentext der beiden Solostimmen Detailun-
terschiede bis heute nicht beseitigt sind. Darüber hinaus weist sogar
eine Stelle im Piano I des KlA-Drucks von 1978 prägnante Akzentverände-
rungen auf (vgl. Z 64/1-2), die sonst nirgendwo auftauchen und die bei
konsequenter (das heißt motivischer) Anwendung im Grunde auch die nach-
folgenden Passagen bis inklusive Z 67 umrhythmisieren und vielleicht
auch anderes beeinflussen. Zweifellos könnte das eine Neuerung von
interpretatorischem Gewicht sein. Ob diese Korrektur aber tatsächlich
vom Komponisten stammt, ist nicht bekannt. Verblüffend ist jedenfalls,
daß die Abänderung allem Anschein nach erst so spät Eingang fand,
während andere offensichtliche Fehler seit 1924/25 unkorrigiert blieben,
darunter einige, die, wie Aufnahmen zeigen, deutlich wahrnehmbar sind.
Im Grunde lebt das Stück von Akzentuierungen, dynamischen Vorschrif-
ten und Phrasierungen. So ist denn auch nicht verwunderlich, daß im
Orchesterteil der DiPa nach und nach eine immense Vielzahl von derlei
Berichtigungen und Verdeutlichungen einfloß.
Merkwürdig ist allerdings, wie wenig gravierend die Solostimme dabei
betroffen ist. Das erstaunt, wenn man in Betracht zieht, daß Strawinsky
als Solist das Werk während der ersten Erprobungsjahre ziemlich oft
aufgeführt hat, und das, obwohl er zumindest anfangs das Klavier nicht
konzertreif beherrschte. Wie wenig er, man muß schon sagen, darauf
zurecht kam, zeigen seine Anfang 1925 direkt eingespielten Rollen für
Duo-Art, darunter ist z. B. der erste Satz des Klavierkonzerts (siehe
oben). Diese Rolle vermittelt, selbst unter der Berücksichtigung der
notwendigen Einschränkungen (näher ausgeführt in meinem unveröffentlich-
ten Strawinsky-Diskographie-Typoskript von 1982, Anmerkung zur Einspie-
lung Feuervogel/Strawinsky/Duo-Art), nicht den Eindruck angemessenen
Konzertschliffs. Ganz im Gegenteil! Strawinsky machte sich offenbar in
diesem Punkt nichts vor, denn er sicherte sich an dem Stück, das er mit
dem Ziel komponiert hatte, aktiv bzw. verstärkt im Konzertbetrieb Fuß zu
fassen (Sicherung des Lebensunterhalts!), die exklusiven Aufführungs-
rechte für die ersten fünf Jahre. Während dieser Jahre gab er mit dem
Werk immerhin ungefähr 40 Konzerte (White, 1979).
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Aufnahmen aus den 30er Jahren zeigen dann, daß Strawinsky im Laufe
der Zeit an Geschicklichkeit hinzugewann. Da das Klavierkonzert gewis-
sermaßen am Anfang dieser Entwicklung steht, ist man angesichts der
vielen Änderungen und Verdeutlichungen im Orchesterteil verwundert über
die wenigen Ausdruckskorrekturen im Klavierpart. War er von Anfang an
tatsächlich weitgehend ausgereift? Wie kommt es dann noch so spät zu den
oben erwähnten Akzentverlagerungen? War die Notation der Solostimme für
den Pianisten Strawinsky nur eine Art niedergeschriebene Gedächtnis-
stütze? (Man beachte: Es ist in Strawinskys OEuvre das sehr vertrackte
Problem der insbesondere durch die Brille einer späteren Korrektur bzw.
"revidierten Fassung" auffällig gewordenen "nackten", "nüchternen",
"teilnahmslosen" Erstnotation ["Skelettnotation"] kein singuläres
Phänomen; als Beispiel diene Apollon musagète.) War der Komponist seiner
(pianistischen) Niederschrift gegenüber unsicher, unschlüssig? Wie
gründlich ist eigentlich die Solostimme, besonders die des KlA, durch-
gesehen worden? Angesichts der nach x-maliger Korrektur immer noch
stehengebliebenen Ungereimtheiten im Notentext stellen sich diese Fragen
wie von selbst. Man sieht also, es wäre an der Zeit, sich mit dem ersten
Entwurf, dem Manuskript und anderen wahrscheinlich existierenden Materi-
alien (Strawinskys private Druckexemplare usw.) zu beschäftigen. Und
eines ist natürlich nicht zu vergessen: Was sagen uns denn Aufnahmen,
insbesondere diejenigen unter der Leitung des Komponisten?
Um bei solchen Interpretationsvergleichen von Einspielungen zu ersten
wirklich greifbaren Ergebnissen zu kommen, scheint es nach dem gegenwär-
tigen Stand der Nachforschungen günstig, als Wegmarkierungen drei Kor-
rekturstufen ("Fassungen") der Solostimme des KlA (1924/25?, 1929 und
1978?) und zwei diskographisch relevante Korrekturstufen der veröffent-
lichten Partitur (1936 und "1950") zu unterscheiden. Weitergehende For-
schungen sollten aber nicht aus den Augen verlieren, daß es noch zwei
weitere Stufen der DiPa gibt, den Erstdruck von 1924 und die letzte
Korrektur von 1960.
Die Möglichkeiten für Abhöranalysen dürften allerdings sehr einge-
schränkt sein. An Partituren steht im allgemeinen nur die StPa (DiPa)
der 1960er Korrekturstufe zur Verfügung. Von den beiden alten Auszügen
ist der 1929er in sorgsam bewahrenden Bibliotheken zwar hier und da
anzutreffen, doch die Ausgabe von 1924/25? ist eine Zufallsrarität (mir
war 1982 ein Standort bekannt, ob die Noten da heute [2004] noch vorhan-
den sind, weiß ich nicht). Alles in allem also ungünstige Voraussetzun-
gen; mit Hilfe der weiter unten wiedergegebenen Beobachtungen müßten
aber vielleicht dennoch erste Versuche möglich sein.
Klavierauszug
1) Bei dem eingesehenen Exemplar des RMV-KlA ohne Druckjahr bemerkt
man bei näherem Hinsehen, daß die Seiten 53 bis 62 vom Stichtyp her
etwas anders sind. Dieser Teil ist entweder während der Drucklegung
später entstanden oder eben ein "Neustich". Außerdem ist die Prägung
von minderer Qualität (das kann man noch in etwa am letzten B & H-
Nachdruck von 1978 feststellen). Es ist also nicht ausgeschlossen, daß
diesem frühen Druck ein (Erst-)Druck vorausging, der in einer zweiten
Auflage bereits eine Änderung erfuhr. Mangels genauer Daten wird
deshalb dieser aufgestöberte (zweite?) RMV-KlA hier zweckmäßigerweise
mit "1924/25?" gekennzeichnet. Das von mir untersuchte Exemplar hatte
ein paar professionelle Korrekturen in Tinte, die eigentlich nur vom
Verlag stammen können (vgl. dazu auch die Tabelle weiter unten.)
2) Der Nachdruck von 1929 weist (vor allem im Piano II) zahlreiche
Korrekturen auf. Die auffälligsten sind: Die meisten Fingersätze
entfielen; viele fehlende oder irrtümliche Vorzeichen wurden ergänzt
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Intro 2002 ff. Seite A58
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bzw. berichtigt (gutes Beispiel: Piano I, Z 47/3); zahlreiche fehlende
Schlüssel wurden eingefügt; das häufig verwendete dritte Notensystem
versuchte man, wenn möglich, durch Übernahme des Notentextes in die
anderen beiden zu tilgen.
Im reinen Notentext des Piano I kamen in Z 7/1 und 29/1 die h-Okta-
ven hinzu. Die Taktzählzeiten der zweiten Kadenz (2. Satz, Z 58) wurden
halbiert, d. h. rein rechnerisch müßte nun eigentlich doppelt so schnell
gespielt werden. In der Praxis wird sich die Halbierung aber wohl nur,
wenn überhaupt, in einem etwas schnelleren, zügigeren Spiel auswirken.
Da die erste Kadenz nicht beschleunigt wurde, könnten bei der einen oder
anderen Einspielung Kontraste zu hören sein. Weitere Änderungen findet
man in der Tabelle weiter unten angegeben.
Wie gesagt, auch der Notentext des Piano II erfuhr Korrekturen. In-
tervalle und Akkorde betreffend z. B. in Z 14/6, 18/8, 36/3, 57/2 und 6,
66/6 und 7, 67/1, 79/2 und 81/5.
Die Boosey & Hawkes-Ausgabe von "1947" (siehe unten), Druck 9.53, ist
ein unveränderter Nachdruck der 1929er RMV-Ausgabe. Dem originalen fran-
zösischen Titel wurde die englische Variante "Concerto for Piano and
Wind Instruments" beigefügt. Dieser ungenaue Titel, der den französi-
schen verdrängte und den später auch die DiPa (StPa) von 1960 erhält,
ist wirklich sehr unglücklich gewählt. Eine seltsame, fragwürdige Fas-
sung. Denn die Besetzung des Orchesters enthält ja bekanntlich neben
Bläsern auch Kontrabässe und Pauken. Ein "orchestre d'harmonie" ist im
übrigen in der französischen Orchesterlandschaft ein Blasorchester,
dessen klassische Besetzung einen Kontrabaß (mindestens einen) und auch
Pauken (Timpani) enthält. Wieso also wurde aus "suivi d'orchestre
d'harmonie" das "and wind instruments"?
Unpräzise Betitelungen tauchen selbstverständlich auch im Konzertwe-
sen, auf Tonträgern sowie in deren Begleitmaterialien auf. Es kommen
auch "Verbesserungen" vor, etwa so: Konzert für Klavier, Bläser und Kon-
trabässe. Die "Unklarheiten" beginnen schon sehr früh, und natürlich
begegnet man ihnen auch in Frankreich. Die erste Schallplattenaufnahme,
am 17. November 1943 in Paris eingespielt, bietet ein etwas schillerndes
Bild. Soulima Strawinsky ist der Solist, Fernand Oubradous der Dirigent
(La Voix de son Maître, Etikett: Disque "Gramophone", zwei 78er Schel-
lackplatten, 30 cm, DB-11.105/106, französische Produktionsnummern der
vier Seiten: M6-105959/963/964/965, Label-Information: Made in France).
Auf dem Etikett steht als Werktitel: CONCERTO pour Piano et Orchestre
d'Harmonie (gleiche Titelgebung also wie auf der ersten Notenseite der
1936er DiPa, siehe weiter oben). Soweit so gut, aber bei der Orchester-
bezeichnung "... l'Orchestre de la Société des Instruments à vent sous
la Direction..." stutzt man dann doch etwas.
Auf eines sollte man unbedingt aufmerksam machen: Das von Eric Walter
White verfaßte und Strawinsky nahestehende Standardwerk, Stravinsky -
The Composer and his Works (Ausgaben 1966 und 1979), hat als Kapitel-
überschrift nur "Concerto", das "For piano and wind instruments" steht
dann abgetrennt und weiterführend am Anfang des Kapitels und in einer
Fußnote wird auf die Originaltitelgebung (Fassung mit der Besetzungsan-
gabe in Klammern) hingewiesen: "The original French title was 'Concerto
(pour Piano suivi d'Orchestre d'Harmonie)[']." Also auch im White eine
nicht ganz übliche Concerto-Titelanlage, generell übrigens, man verglei-
che die anderen Fälle, da schimmert Überlegung durch.
Nebenbei, die Satztitelgebung der Disque "Gramophone"-Pressung lau-
tet (die angegebenen Zahlen in eckigen Klammern [1], [2] usw. sind eine
hier hinzugefügte Seitenkennzeichnung):
[1] 1er Mouvement - 1re Partie
[2] 1er Mouvement - fin
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Intro 2002 ff. Seite A59
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2e Mouvement - 1re Partie
[3] 2e Mouvement - fin
[4] 3e Mouvement
Von Tempoangaben keine Spur! Wo also stammen die Bezeichnungen der
frühen KlA-Ausgaben "I [sic] Largo - Allegro, II Larghissimo [sic], III
Allegro" her, die die französische Firma naïve-andante in ihrem 2002
erschienenen 3-CD-Paket andante ANDCD1960 (Igor Stravinsky: Composer &
Conductor, Vol. 1) der Wiederveröffentlichung beigefügt hat? Lagen
irgendwelche alten Aufnahmeunterlagen vor?
Zurück zur frühen Boosey & Hawkes-Ausgabe des KlA: Das Copyright
bezieht sich außer auf 1947 auch auf 1924; nichts weist darauf hin, daß
1929 der KlA und 1936 die DiPa "Revisionen" erfuhren. (Beobachtungen,
die die im Einzelfall noch nicht wirklich geklärte Bedeutung der von
Boosey & Hawkes verwendeten Copyright-Angabe "1947" betreffen, hier
beim Klavierkonzert lautet die Angabe "Copyright assigned 1947 to Boosey
& Hawkes Inc., New York, U.S.A.", sind in meinem unveröffentlichten
Strawinsky-Diskographie-Typoskript von 1982 in einer Fußnote zu den
Credo-Werkgrunddaten angeführt.)
3) Der KlA mit dem Zusatz "revised 1950" erschien, so unglaublich das
klingen mag, wahrscheinlich erst 1978. Wie dem auch ist, es wurden etli-
che Korrekturen vorgenommen, vor allem um die Solostimme endlich an den
Stand der DiPa heranzuführen: die erste Kadenz erhielt nun in Z 52 eben-
falls die halbierten Taktvorschriften, eine ganze Reihe von Phrasie-
rungszeichen kam hinzu (wegen dieser Einfügungen sind die Seiten 35 bis
37 und die Teilseiten 40b, 41a und 47a neu "gestochen" worden), außerdem
wurden etliche Akzente, dynamische Vorschriften, Sicherheitsvorzeichen
usw. ergänzt. Und dennoch bestehen, wie schon gesagt, nach wie vor zwi-
schen Piano I und der Solostimme der DiPa bei hörbaren Details Unter-
schiede, in Z 64/1-2 nun auch noch neue in der Akzentuierung.
Auch Piano II wurde einer Durchsicht unterzogen, alles in allem sind
es doch sehr viele Korrekturen. Im eigentlichen Notentext u. a. in Z
14/1 ff., 41/5 und 6, 51/1, 57/2 (Tilgung einer 1929er Korrektur) und im
Takt vor Z 81.
Dirigierpartitur
1) Es handelt sich bei dem RMV-Erstdruck der DiPa von 1924, ähnlich
wie bei Mavra, um einen sogenannten Kopistenabschriftdruck, der neben
der "Plattennummer" auch noch die Numerierung einer Pariser Kopierfirma
trägt: L.C.S 194. In den Notentext des eingesehenen Exemplars sind eine
ganze Reihe von Detailverbesserungen unterschiedlicher Art eingetragen
worden, z.B. in Z 7/1 mit Bleistift das h-Oktavenmotiv. Bei Z 29/1 wurde
es allerdings noch nicht ergänzt. Wie es scheint, ist dieses doch wohl
markante Detail erst nach und nach in die Komposition der Solostimme
übertragen worden. Manche der Korrekturen (vgl. Z 75 bis 77) stammen mit
Sicherheit von Strawinsky selbst (siehe unten). Es sollte in diesem Zu-
sammenhang auch hier noch einmal betont werden, daß von ANFANG an zwi-
schen der Solostimme des KlA und der Solostimme der DiPa Unterschiede
bestanden und daß einige davon noch heute bestehen (vgl. dazu die Tabel-
le weiter unten).
2) Die 1936er DiPa ist ein regelrechter Satzdruck. Die meisten der in
der obigen Partitur von 1924 vorgefundenen Korrekturen sind hier ausge-
führt, viele neue kamen hinzu. In der Solostimme ist die zweite Kadenz
jetzt beschleunigt, die erste blieb genau wie im 1929er KlA unverändert.
Ergänzt ist auch in Z 7/1 und 29/1 das h-Oktavenmotiv.
Die letzte Notenseite trägt die Datierung: Biarritz 21 Août 1924 [//]
Da das Manuskript mit 21. April 1924 abgezeichnet ist, vermutet White,
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Intro 2002 ff. Seite A60
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1979, einen Druckfehler. Angesichts der verwickelten Korrekturgeschichte
des Werkes kann es aber auch genausogut sein, daß selbst am Manuskript
dauernd weiter verbessert wurde und daß das Datum 21. August irgendwie
mit dem Druck der 1924er DiPa in Verbindung steht (Abgabe des Manu-
skripts usw.). Das (Druck?-)Datum in der Païchadze-Liste, 26. Dezember
1924, würde dieser Möglichkeit zumindest nicht widersprechen. Der 21.
August könnte sich aber auch auf die Notentextkorrekturen in Z 75 bis 77
beziehen, die Strawinsky mit Tinte fein säuberlich in die 1924er DiPa
nachgetragen hat (und die übrigens in den späteren Korrekturstufen nur
zum Teil berücksichtigt worden sind). (Datierung des Klavierauszugs auf
der letzen Notenseite, S. 62, der Drucke 1924/25?, 1929 und 1978 immer
gleich, unveränderter Druck: BIARRITZ, / Avril, 1924. //)
Fortsetzung
[intro05]
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