Pulcinella - Tafel 6: Gesamtballett 2
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Themen: Versehen in der Reinschrift, Leihstimmenschreiber
Reinschrift Seite "- 3 -"
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Pulcinella-Ballett, Reinschrift, Serenata, Seite "- 3 -"
Quelle: Christian Geelhaar (Hg.), STRAWINSKY [-] Sein Nachlass.
Sein Bild., Basel 1984 (Kunstmuseum Basel in Zusammenarbeit mit
der Paul Sacher Stiftung Basel), 386 S., obiges Faksimile: S. 80
(Beilagen: Katalog der ausgestellten Bildnisse und Entwürfe für
die Ausstattung seiner Bühnenwerke, [14] S., Programm und An-
sprachen des Eröffnungsaktes im Stadttheater Basel, 18 S.)
Originaltext zu diesem Faksimile: "Pulcinella. 1920 / Serenata,
mit Eintragung der / Suiten-Fassung (in roter Tinte) / Partitur,
Reinschrift; mit / Klavierauszug / Sammlung Paul Sacher"
Folgenreiches Versehen:
In der Serenata-Passage Ziffer 2 Takt 3 bis inklusive Ziffer 3
Takt 1 Taktschlag 2 weisen die Reinschrift und die nach ihr vom
Russischen Musikverlag gesetzte Leih-Dirigierpartitur (Copyright
1924) dieselbe Vertauschung auf: Was in den Solostreichersystemen
steht, gehört als Fortsetzung zum Vorherigen in die Orchester-
systeme und die durchgängigen Pausen hier müßten dementsprechend
in die Solosysteme wandern. Diese Solosysteme kommen in der Druck-
partitur auf Seite 11 hinzu, wie das so offenbar auch auf der Seite
"- 3 -" der Reinschrift der Fall ist - und womit in etwa deutlich
wird, wie das gedruckte Mißgeschick seinen Anfang nahm (Abbildung
aus der 1924er Leihpartitur und weitere Informationen zur Verwechs-
lung und deren Folgen siehe Haupttext).
Der originale Katalogtext zum Faksimile erweckt nicht den Eindruck,
als sei der Fehler bei der Erstellung des Bandes bekannt gewesen.
Zudem ist der Hinweis "mit Eintragung der Suiten-Fassung (in roter
Tinte)" im Hinblick auf die roten Ergänzungen in den Orchester-
systemen (siehe die Systeme direkt über dem Klavierauszug, dort:
Ziffer 3 Takt 1) nicht erklärend genug, da diese überflüssig sind,
wenn für Ballett und Suite die irrtümlichen Eintragungen in die
fünf über den Orchsterstimmen liegenden Solostreicherstimmen an
ihre richtige Stelle (= nach unten) versetzt werden.
Insofern ist auch nicht so recht einsichtig, oder besser gesagt,
es geht aus dem Faksimile nicht hervor, was der Komponist mit dem
in den Orchesterstreicherstimmen eingetragenen Ergänzungsfragment
eigentlich beabsichtigte. Höchstwahrscheinlich sollte es nur der
Orientierung dienen. Womit der Komponist aber eine weitere Unsi-
cherheit schuf: Er vergaß nämlich zu Beginn des Takts das für
beide Violinen erforderliche Segno-Kreuz. Das dann prompt auch in
der 1924er Druckpartitur der Orchestersuite fehlt, ausgetauscht
wurden eben nur die Inhalte der beiden Takte 3 und 4 der Ziffer 2
(Suite: Ziffer 10 Takt 3 und 4), was bedeutet, daß das Endezeichen
der ab Ziffer 1 Takt 4 (Suite: Ziffer 8 Takt 4) vorgeschriebenen
Anweisung "A punta d'arco e sul tasto fino al segno (x)" vermißt
wird. Ein Auslassungsfehler, der seit der Erstausgabe der revidier-
ten Fassung der Suitepartitur, erschienen 1949 (Dirigier- und
Taschenpartitur), korrigiert ist.
Daß die Zuweisung der Solo- und Orchesterstreicher in der 1924er
Ballettpartitur zu Beginn der Serenata tatsächlich eine Vertau-
schung war, geht auch aus dem roten Hinweis auf der ersten Serena-
ta-Seite der Reinschrift hervor: "'pour la Suite le 'Quatt.-solo'
tacet jusqu'au [3] et est remplacée par le Quatt.-orch."' (Zitat
und eckige Klammer nach Carr 2010, S. 15, zu Carr siehe unten, zu
ihrer Zitatgenauigkeit siehe Zwischennote {*1}).
Bezüglich der Verläßlichkeit der Reinschrift beachte man auch, daß
in den ersten beiden Takten der Flöte I (von oben erstes System)
die Haltebögen, die die 1924er Ballettpartitur aufweist, hier nicht
eingezeichnet sind, was der Wiedergabe in der gedruckten Orchester-
suitepartitur von 1924 und der in den Revisionen (Suite: 1949 ff.,
Gesamtballett: 1965/© 1966) entspricht. Doch fehlerfrei oder voll-
ständig ist die Reinschrift dabei nicht: Es fehlen unter den Sech-
zehnteln die "Staccato"-Punkte (eine Absetzungsvorschrift), die die
Druckpartituren des Balletts und der Suite aufweisen (der gedruckte
Klavierauszug, Chester 1920, hat, wie so oft, keine dieser Phrasie-
rungszeichen).
Auffällig ist auf der Seite "- 3 -" außerdem die inkomplette Aus-
stattung mit Dynamikzeichen. Daraus kann man eigentlich nur
schließen, daß die Probedruckfahnen Korrektur gelesen worden
waren. Doch warum ist hierbei der gravierende Verwechslungsfehler
nicht aufgefallen, zumal ihn die 1924er Suitepartitur nicht mehr
hat? (Näheres zur Suiteerstellung, zu den dafür nötigen Neustich-
seiten siehe an anderem Ort. Es gibt außerdem, darauf sei hier
hingewiesen, in der 1924er Ballettpartitur eine weitere erhebliche
Verwechslung von Systemen, die vielleicht auch schon in der Rein-
schrift vorhanden ist; zu dieser Verwechslung siehe die Abteilung,
die sich mit dem Vergleich der Druckpartituren beschäftigt, in
Vorbereitung.)
Zum "Reinschrift-Klavierauszug":
Auch der "Reinschrift-Klavierauszug" bedarf einer Prüfung. Zunächst
überrascht, daß er nicht die gesamte Komposition abdeckt (Mittei-
lung in Carr 2010, S. 38, Fußnote 96, zu Carr siehe weiter unten).
So reicht (laut Carr) ein erster - ununterbrochener - Teil nur bis
zur Manuskriptseite 110 (geschrieben ist dieser Teil überwiegend in
Tinte, ab S. 75 2 1/2 Seiten mit Bleistift). Dem folgen nach einer
dreiseitigen Unterbrechung bloß noch drei - wieder mit Bleistift -
ausgeführte Seiten und nach einer sehr großen Lücke schließlich das
Finale mit 19 Seiten (beachte: die Angabe in der erlauchten Fest-
schrift-Dokumentation "Musikhandschriften aus der Sammlung Paul
Sacher", 1976, S. 76, der Klavierauszug reiche nur "bis Seite 110",
entspricht also offenbar nicht ganz dem Sachverhalt).
Wie zu sehen, war irgendwann vielleicht auch der erste Teil nicht
ganz vollständig gewesen, doch reicht er mit den 2 1/2 Bleistift-
seiten immerhin bis etwa zur Hälfte des Manuskripts, dessen Umfang
X (Ouverture) + 215 Seiten beträgt (Angabe nach Shepard, in Notes,
June 1984, S. 738; Musikhandschriften Sacher, 1976, siehe oben;
Brook 1988, S. 64; Cyr 1987/1989, Carr 2010 wie oben).
Sehr wahrscheinlich bedeutet die Angabe "bis Seite 110": bis vor
Ziffer 114 (Chester-Klavierauszug: bis vor S. 47). Dies läßt sich
andeutungsweise schon aus den Angaben in "Musikhandschriften aus
der Sammlung Paul Sacher" (siehe oben) herleiten, etwas genauer
aber aus der Tabelle II, die in Brook 1988 wiedergegeben ist
("CHART II", S. 63/64). Zwar wird in Brooks Artikel der "Rein-
schrift-Klavierauszug" nirgends genannt, doch sind in der Tabelle
die Seitenzahlen der Reinschrift-Partitur im Vergleich zu den
Ziffernangaben der revidierten Druckpartitur einerseits und zu den
Seitenzahlen des Chester-Klavierauszugs andererseits aufgelistet
(nebenbei: die Ziffernangaben der revidierten Partitur von 1965/©
1966 und der - von Brook ebenfalls nirgends erwähnten - originalen
Druckpartitur von 1924 sind praktischerweise gleich).
An dem "Reinschrift-Klavierauszug" fällt zunächst auf, daß ihn der
Komponist zu Beginn der Ouverture zwar eine "Réduction / pour /
Piano / a [sic] / 2 mains" nennt (siehe das Faksimile der Seite
"I" im Sacher-Katalog von 1984 auf S. [81]), daß aber wohl - wie
hier die Seite "- 3 -" zu vermuten nahelegt - auch an den anderen
von ihm abgedeckten Partien mit Gesang die Vokalteile hinzugedacht
werden müssen. Desweiteren weisen gegenüber dem von Chester 1920
herausgegebenen Druck die vier Takte auf Seite "- 3 -" auch einige
Detailunterschiede auf. So ist in der linken Hand im Takt 1 der
Ziffer 3 auf der Drei die Oktave "c-c'" in der Chester-Fassung
(S. 5, Takt 10) ein unlogischer Einklang auf "c'" (= Hals nach oben
und Hals nach unten). Andrerseits fehlen auf der Reinschriftseite
in der Oberstimme des Klavierauszugs vier Bindebögen.
Genau genommen dürfte der Klavierauszug in der Reinschrift wohl nur
eine Art Behelfsauszug genannt werden. Eine Einschätzung, bei der
nicht so sehr eine Rolle spielt, daß er ein Fragment geblieben ist,
sondern daß in ihm, so wie es aussieht, nur die Instrumentalstimmen
zusammengefaßt worden waren. Ein abschließendes Urteil läßt sich
aber natürlich nur nach einer Durchsicht des Manuskripts fällen,
wobei zum im Chester-Verlag erschienenen Klavierauszug gesagt wer-
den muß, daß er alles andere als ein selbstverständlicher, zwei-
felsfreier, befriedigender Text ist; und dies, obwohl er vom Kom-
ponisten herrührt, das heißt, von einer Vorlage abstammt, die der
Komponist und eine unbekannte Hand geschrieben hatten (Weiteres zu
diesem Autograph siehe unten Zwischennote {*1}, zum "Reinschrift-
Klavierauszug" siehe am Schluß die spezielle Anmerkung).
Bibliographisches zur Seite "- 3 -":
Wegen der im Internet oft mangelhaften Übertragung diffiziler
Abbildungen nachfolgend die Niederschrift der längeren Texte
auf der Seite "- 3 -":
en harmonique en se servant du doig- / té du fa grave (alles
unterstrichen)
partie du 1er violon / Solo pour la SUITE / (à la place du
chant) ["violon" unterstrichen, möglicherweise mit Bleistift] {*1}
Men - tre l'erbet - ta pas - ce l'a - [gnel - la]
Flautando sino all'segno (x) [richtig: al segno]
{*1} Carr zitiert auf Seite 15 ihrer Dokumentation von 2010
(siehe unten) diesen Hinweis leger so: "'partie du 1er violin
[sic, Verf.] solo pour la SUITE (à la place du chant).'" Zu
Carrs Zitierweise siehe auch die Kritik an anderem Ort.
(Man braucht bei Carr nach Ungenaugkeiten nicht lang zu suchen.
Gleich der nächste Satz enthält wieder eine: "Stravinsky then
writes the four string parts in red ink." Richtig ist: five
[solo] string parts, siehe oben die Abbildung.)
Die Zahlen im rot umrandeten Quadrat haben die folgende Bedeutung:
Ballett Ziffer 3, Suite Ziffer 10. Links davon hat offenbar das auf
Seite 4 aufgemalte Quadrat durchgefärbt, die Zahlen müßten 4 bzw.
11 lauten. Jedenfalls ist einigermaßen deutlich, daß diese Zählung
nach nur einem Takt folgt, eben dem letzten Takt der aus drei Tak-
ten bestehenden Ziffer 3.
Aufschlußreich ist auch die Seitenzählung: "- 3 - " steht, wie zu
erwarten, auf einer Recto-Seite, denn links unten ist - zumindest
mit Lupe - die Innenfalzung gerade eben noch sichtbar (mit einigem
Wohlwollen auch noch oben auf der JPG-Abbildung). Daß aber die Zäh-
lung bei der Serenata beginnt, mit recto = 1 (also wohl "- 1 -",
verso = "- 2 -"), mag verwundern, doch - anders als in den gedruck-
ten Orchesterpartituren und im Chester-Klavierauszug - hat in der
Reinschrift, wie oben schon angegeben, die Ouvertüre eine römische
Extra-Zählung (Quellen: im Sacher-Katalog 1984 das schon erwähnte
zweite Faksimile = Recto-Seite "I"; Musikhandschriften Sacher 1976,
Cyr 1987/1989, Carr 2010). Der Schluß der Ouverture steht also auf
einer Verso-Seite X, der die Serenata in arabischer neuer Zählung
unmittelbar folgt {*1}.
Auf der Reinschriftseite "I" ist auch zu sehen, daß der Komponist
oberhalb des in schwarzer Tinte geschriebenen "Ouverture" für die
Suite in rot (ebenfalls in Tinte) "I. Sinfonia" ergänzte, woraus im
Druck von 1924 "I / Sinfonia / (Ouverture)" wurde, in der Revision
1949: "I / SINFONIA / (Ouverture)".
{*1} Damit keine Mißverständnisse aufkommen: In den gedruckten
Ballettpartituren (Erstdruck 1924, Revision 1965/© 1966) weist
die Ouverture zwar keine römische Seitenzählung auf, stattdessen
aber eine römische Takteeinteilungszählung, sie geht nach sechs
unbezifferten Takten von I bis VII. Und es ist wohl davon auszu-
gehen, daß auch in der Partiturreinschrift des Gesamtballetts
die Ouverture eine römische Taktbezifferung hat und diese der-
jenigen der Druckpartituren taktgenau gleicht (hierzu findet
sich in Carr 2010 in den Ausführungen zu römischen Zählungen
keine Bemerkung, siehe dort S. 10; es gibt aber im Zusammenhang
mit der erörterten Vermutung, daß die Ouverture der wohl zuletzt
erstellte Teil sei, die Aussage, dies habe "a bearing seen to
this day on the sequence of rehearsal numbers in the printed
edition"; ob daraus aber etwas zum Thema herzuleiten ist, ist
unklar, zumal es eigentlich auch nicht neblig um "sequence"
geht, sondern zunächst und konkret um den Ziffernunterschied:
römisch, arabisch).
Römische Seitenzahlen weist auch die Ouverture des oben erwähn-
ten (vollständigen) Klavierauszugmanuskripts auf, das, zu einem
großen Teil von Strawinsky geschrieben, die Notentextvorlage
für den Chester-Klavierauszug von 1920 bildete und heute im Be-
sitz der British Library ist (frühe Quellen u.a. Cyr 1987/1989;
Brook 1988, S. 60/61). Doch römische Takteeinteilungszahlen hat
dieser handschriftliche Klavierauszug auch nicht (siehe Carr
2010, S. 10), und dies entspricht der ohne alle Taktzählungs-
ziffern gestochenen Druckversion.
Beachte: Neben den Datierungen - Ouverture, Partitur Seite X:
"Morges, 24/IV 1920", Schluß der Partitur Seite 215: "Morges,
20 avril 1920" (Schreibweise der Datierungen nach Musikhand-
schriften Sacher 1976) - deuten auch die Zählungen mit darauf
hin, daß die Ouverture in der Tat der zuletzt komponierte Teil
ist (Weiteres siehe Haupttexte, teilweise noch in Vorbereitung;
eine Diskussion findet man, wie gesagt, in Carr 2010, S. 10).
Bei beiden im Sacher-Katalog von 1984 wiedergegebenen Faksimile-
Seiten zeigen die Ecken unten rechts deutliche Gebrauchsspuren. Sie
schauen ziemlich "speckig" aus, entstanden vielleicht durch häufi-
ges Umblättern während der frühen Aufführungen, der Zeit vor der
Drucklegung der Partitur (1924) (Uraufführung: Théâtre National de
l'Opéra, Paris, Samstag, 15. Mai 1920, Ballets Russes, Dirigent:
Ernest Ansermet, vgl. im gedruckten Klavierauszug die Informations-
seite = S. [II]; Abbildung des Plakats für die Aufführung am Diens-
tag, 18. Mai 1920, mit dem Hinweis "Création" = Erstinszenierung
siehe V. Stravinsky/R. Craft, 1978, S. 182).
Anmerkung zu zwei Klavierauszug-Fragmenten:
Die Sacher-Stiftung in Basel besitzt ein handschriftliches Klavier-
auszugsfragment, das in Carr 2010 (siehe unten) faksimiliert wie-
dergegeben ist. Es weist zwei Seitengrößen auf, wobei zur größeren
Sorte nur zwei lose Blätter gehören. Ihnen folgen 25 Blätter etwas
kleineren Formats, die, anders als die beiden losen Blätter, einen
von vornherein zusammengehörigen Eindruck zu vermitteln scheinen.
Insgesamt sind deutlich drei Handschriften zu erkennen: unbekannte
Hand I (4 Notenseiten = die beiden losen Blätter), Strawinsky (3
Notenseiten, Doppelblatt), Strawinsky (12 Notenseiten, zusammenge-
bunden), unbekannte Hand II (16 Notenseiten, 3 + 2 Doppelblätter
jeweils ineinandergelegt) und zum Schluß wieder Strawinsky (9 No-
tenseiten, zusammengebunden) (beachte: wie auch immer unvollständig
genutzte Seiten wurden mitgezählt, Titel- und Leerseiten hingegen
blieben unberücksichtigt).
Strawinskys damalige Notenschrift fällt bei Reinschriften als mar-
kante Schönschrift sofort ins Auge. Die beiden unbekannten Hand-
schriften zeigen, daß sie von geübten Händen stammen. Hand I war
allerdings weniger sorgfältig zu Gange; Hand II dagegen schrieb
sehr ordentlich und konzentriert, dennoch erscheint Hand I eine
professionellere Hand zu sein, zuzurechnen allerdings weniger einem
Kopisten als vielmehr einem Komponisten oder Arrangeur. Der Noten-
text des ersten losen Blatts weicht erheblich vom Chester-Klavier-
auszug ab. Man fragt sich, ob dieser Auszug wirklich vom Komponi-
sten stammen kann, da die Gestaltung und auch die Harmonisierung
der Begleitung im Vergleich zum gedruckten Klavierauszug so überaus
unterschiedlich sind; und Zweifel kommen auch bei Blatt zwei auf
(soweit der erste Eindruck, Weiteres wurde nicht näher angesehen).
Insgesamt also ein merkwürdiger "Klavierauszug", wobei man nicht
weiß, was größeres Erstaunen hervorruft, die bemerkten Abweichungen
vom Chester-Klavierauszug (diejenigen auf dem ersten losen Blatt
gehen erheblich am eigentlichen Partiturklang vorbei) oder die
kooperative, zusammenstückelnde Schreibarbeit, die das offenbar
zusammenhängende, zusammengehörige Fragment entstehen ließ.
Zum Faksimile des Manuskriptfragments. Es ist schwarz-weiß wieder-
gegeben in: Maureen A. Carr (Hg.), Stravinsky's Pulcinella: A fac-
simile of the Sources and Sketches, Middleton, Wisconsin, 2010 (A-R
Editions), S. 357-416. Hier und da sind Stempel zu sehen, ein
schlichter kreisförmiger mit "COMPAGNIE BALLETS RUSSES" im Außen-
rand und "S. de D." [= Sergej de Diaghilew]" in der Mitte, daneben
ein zweiter, blumig stilisierter, bestehend aus einer auf einem
Lorbeerkranz thronenden Lyra, wobei der Kranz selbst, logoartig
gestaltet, "Li / f / ar" [= Sergej Lifar] enthält.
Lifar trat 1923 in Diaghilews Balletts Russes ein. Und somit deutet
alles darauf hin, daß die Handschrift höchstwahrscheinlich aus dem
einstigen Notenbestand der Balletts Russes stammt; irgendwelche
Zweifel daran sind jedenfalls derzeit nicht erkennbar. Das Fragment
hat zwei Zählungen, eine kurze Binnenzählung (Seitenzählung: 1 bis
9, mit einem Versehen: doppelte 8) und eine durchgängige Blattzäh-
lung, sie lautet (Satztitelblätter wurden bei der Zählung gelegent-
lich übersprungen): 45, 46, 48 bis 70. 47 betrifft offenbar ein No-
tenblatt, denn wie aus dem Vorhandenen ableitbar, fehlt der 10tak-
tige Zwischenteil Ziffer 122. In der revidierten Partitur 1965/©
1966 ist diesem Teil "Larghetto, [Dreiachtelnote] = 48" vorgezeich-
net, in der Partitur von 1924 dagegen "Largo assai (Tempo I)" und
im Chester-KlA (S. 54) "Tempo Iọ (Largo.)". Dem folgt in Strawin-
skys Handschrift unter der Überschrift "Scène du mage" das "Allo /
alla breve / M.M. / [halbe Note] = 108", das in der Partitur mit
der Ziffer 123 beginnt (KlA S. 55: "Allegro alla breve.", Tempoan-
gabe in der revidierten Partitur 1965/© 1966: "Allegro-alla breve,
[halbe Note] = 116"). Weiterhin fehlen alle Teile vor Blatt 45,
auf dem, geschrieben von einer unbekannten Hand, unter dem Titel
TRoïKA
die Presto-Einleitung zum Tenorsolo "Una te falan zemprece ed è"
steht; in den Partituren sind das die Ziffern 117 und 118 (KlA S.
51). (Beachte: Neben zwei großen Fehlerbehebungen erfuhr die revi-
dierte Ballettpartitur von 1965, Copyright 1966, zahllose Kleinst-
korrrekturen, hierzu zählt auch die Tempoangabe für diesen Presto-
Teil, nachfolgend eine Aufstellung dazu. KlA von 1920: "Presto. /
♪ = ♪", Lifar-KlA: "Presto. Alla Breve. / (♪ = ♪)", Leih-DiPa
1924: "Presto / ♪ = ♪", revidierte DiPa: "Presto, [halbe Note] =
112 / [Dreiachtelnote = halbe Note]")
Was nun die abhanden gekommenen Blätter vor 45 betrifft, so ist an-
gesichts der beiden losen Blätter durchaus denkbar, daß in einem
Zwischenstadium die Blätter 42 bis 44 - vielleicht auch lose - noch
vorhanden waren. Inhaltlich bezöge sich das in etwa auf den Teil
Ziffer 114 bis 116, wobei, wie oben gesagt, bis wohl vor Ziffer
114 - Beginn des Duetts "Ncè [in den Drucken: ncè] sta quaccuna pò"
(Sopran) / "Una te falan zemprece" (Tenor) - der erste (nahezu ganz
in Tinte gechriebene) Teil des fragmentarischen "Reinschrift-Kla-
vierauszugs" reicht, laut Carr 2010 (siehe oben) also bis zur Seite
110 des Partiturmanuskripts. Könnte hier eins ins andere passen?
Bloße Spekulation? Jedenfalls ist nicht verwunderlich, daß sich an-
gesichts einer solch möglichen Überlappung die Frage stellt, ob
vielleicht das Lifar-Fragment irgendwann und irgendwie den Anschluß
an den ersten Teil des "Reinschrift-Fragment" gebildet haben könn-
te. Sollte da (wie auch immer) etwas dran sein, wäre allerdings von
der Rätselhaftigkeit des Lifar-Manuskripts einerseits und des nur
etwa halb ausgeführt gebliebenen "Reinschrift-Klavierauszugs" ande-
rerseits kaum etwas getilgt, im Gegenteil, die Sachlage wäre wahr-
scheinlich noch rätselhafter.
(Zitatrichtlinie: Zeilenumbruchzeichen (/) in Zitaten in und ohne
Anführungszeichen sind eine Hinzufügung des Verfassers. Ausnahmen
sind gekennzeichnet.)
Online: September 2012, zum Stand siehe unten
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Ballettleihmaterial: einst "4", 2007 eingesehen als "B4"
Einiges zur Schreiberbestimmung - und ein Kuriosum
Abbildung 1
Pulcinella-Ballett, Leihstimmen Satz "4" bzw. "B4"
"Solo-Viola" (Satz I, Solostreicher), Ouverture, Kopfpartie
- Hauptkopist I, drei "kursive" Schriftmodi:
Zier-, Schreib und Druckschrift, flexibel, mischt gelegentlich
Varianten, z.B.:
"A" in Albert, anders in Allegro
"t" in Ballet, Albert, Ouverture, anders in Edited, moderato
"l" in Pulcinella, Ballet, anders in Pergolesi, wiederum anders
in Albert, Allegro, Solo-Violine 2 auf Abb. 2
Charakteristika, z.B.:
"r" in Pergolesi, Albert, Ouverture, moderato
"g" in Pergolesi, Spalding, Allegro
"k" in Stravinsky, Musikverlag auf Abb. 5
- Nebenschreiber Ia (= IIa, siehe Abb. 7 bis 9):
"(revised 1965)"
Weiteres siehe nachfolgend
Beachte: seltsames, ungewöhnliches "ÿ" in "by"
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Abbildung 2
Pulcinella-Ballett, Leihstimmen Satz "4" bzw. "B4"
"Solo-Violine 2" (Satz I, Solostreicher), Ouverture, Kopfpartie
- Hauptkopist I
Beispiel für Schreibschrift: Ouverture, so auch in Stravinsky
und Spalding
Varianten (Fortsetzung):
"g" in Spalding, anders auf Abb. 1 in Pergolesi, Allegro
Nebenbei: Schreibfehler "Porgolesi"
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Abbildung 3
Pulcinella-Ballett, Leihstimmen Satz "4" bzw. "B4"
"Solo-Viola" (Satz I, Solostreicher), Scherzino
- Hauptkopist I
Varianten (Fortsetzung):
"o" in Scherzino, auf Abb. 1 und 2 in Ouverture, anders auf Abb.
1 bzw. 2 in Pergolesi, Porgolesi [sic], Allegro, moderato
Charakteristika (Fortsetzung):
"z" in Scherzino (mit Querstrich, siehe auch Abb. 4), pizz. (ohne
Querstrich, siehe auch Abb. 4)
Beachte: Die Tempobezeichnung "Allegro" fehlt. Nicht nur solche
Hinweise fehlen in den Stimmen gelegentlich, sogar Satztitel ereilt
dieses Schicksal (zur Texttreue siehe Haupttext).
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Abbildung 4
Pulcinella-Ballett, Leihstimmen Satz "4" bzw. "B4"
"Solo-Cello" (Satz I, Solostreicher), Scherzino
- Hauptkopist I
Varianten (Fortsetzung):
"p" in pizz., poco cresc., anders p sub, pp, p, wiederum
anders auf Abb. 1 und 2 in Spalding
Beachte: drei verschiedene "p"
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Abbildung 5
Pulcinella-Ballett, Leihstimmen Satz "4" bzw. "B4"
"Solo-Bass" (Satz I, Solostreicher), Copyright-Block
- Hauptkopist I
Varianten (Fortsetzung):
"k" in Musikverlag (auffällig, siehe nachfolgend), anders in
Hawkes, auf Abb. 2 in Strawinsky
Charakteristika (Fortsetzung):
"k" in Musikverlag, Stravinsky auf Abb. 1
Beachte: Links ist etwas vom Abnutzungsgrad der Stimmen zu sehen,
ein kleiner Teil der abgegriffenen, speckigen Blattecke, eine
Ahnung also vom im Hauptext angesprochenen Zustand der Stimmen.
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Abbildung 6
Pulcinella-Ballett, Leihstimmen Satz "4" bzw. "B4"
"Violoncelles" (Satz II, Streichorchester), Ouverture (Satztitel
nicht genannt!)
- Hauptkopist II:
Die Handschrift dieses Kopisten (der Streichorchesterstimmen) ist
durchgängig verhältnismäßig einheitlich.
Beachte: Die Staccoto-, Tenuto-Zeichen und das "p" sind offenbar
Dirigentenanweisungen; in den Druckpartituren steht davon nichts.
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Abbildung 7
Pulcinella-Ballett, Leihstimmen Satz "4" bzw. "B4"
"1er Violon" (Satz II, Streichorchester), Serenata (Satztitel
nicht genannt!)
- Nebenschreiber IIa (= Ia):
Systeme 1 bis 4 (ausgetauschte Revision). Von diesem Schreiber
stammt auch das hier mehrfach abgebildete "(revised 1965)" und
unten im Notenbeispiel 12 die "Plattennummer".
Varianten, z.B.:
"a" in Larghetto, anders in punta, d'arco usw.
Charakteristika, z.B.:
"t" in Larghetto, punta (siehe aber auch Abb. 8 unter "Varianten")
"g" in Larghetto, segno (komplett verrundeter Bogen)
- Hauptkopist II:
Ab dem fünften System (der Schriftwechsel zeigt keinen späteren
Schreiber an, der Hauptkopist II ist vielmehr der Erstkopist der
Streichorchesterstimmen).
Beachte: Die f-p-f-Folge (Stufendynamik) unter dem System 5 ist
offenbar eine Dirigentenansicht; in den Druckpartituren steht diese
Anweisung jedenfalls nicht.
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Abbildung 8
Pulcinella-Ballett, Leihstimmen Satz "4" bzw. "B4"
"Violoncelles" (Satz II, Streichorchester), Seite [1] (= Ouverture,
Satztitel nicht genannt!), Copyright-Angabe (im Vergleich zu den
anderen Abbildungen vergrößert dargestellt)
- Nebenschreiber IIa (= Ia):
Varianten (Fortsetzung):
"y" in Copyright, Boosey, anders: Längsstrich mit Bogen (wie "g",
ohne Abbildung)
"t" in Copyright (Zeile 1), auf Abb. 7 und 9 in Larghetto, anders in
to, countries (siehe auch Haupttext Notenbeispiel 8)
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Abbildung 9
Pulcinella-Ballett, Leihstimmen Satz "4" bzw. "B4"
"Altos" (Satz II, Streichorchester), Serenata (Satztitel nicht
genannt!)
- Nebenschreiber IIa (= Ia):
Systeme 1 und 2 (ausgetauschte Revision)
- Hauptkopist II (= Erstkopist der Streichorchesterstimmen):
Ab System 3 (beachte den linkischen Altschlüssel)
- "arco" stammt vom Nebenschreiber IIb (siehe nachfolgend).
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Abbildung 10
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Pulcinella-Ballett, Leihstimmen Satz "4" bzw. "B4"
"Altos" (Satz II, Streichorchester), Ouverture (Satztitel nicht
genannt!)
- Nebenschreiber IIb:
Den weit überwiegenden Teil des Streichorchesterstimmenkorpus
schrieb Hauptkopist II (siehe Abb. 6, 7 und 9). Eine andere Hand
zeigt hier die Abbildung, es stammt von ihr die Tempobezeichnung
"Allegro Moderato". Diese Hand, Nebenschreiber IIb genannt, wurde
nur in den Orchesterstimmen Violine I und Bratsche vorgefunden,
sie trug ausschließlich Vortragsanweisungen und dergleichen, also
"Text"-Ergänzungen, ein bzw. nach, in der Bratschenstimme erheb-
lich mehr als in der Violine I. Aller Wahrscheinlichkeit nach
gehört diese Nebenhand IIb der ersten Abschriftstufe des Haupt-
kopisten II an, der Schreiber las vermutlich die beiden genannten
Stimmen Korrektur.
- Hauptkopist II:
Er schrieb den Grundstock der Stimme (also auch den in der Abbil-
dung sichtbaren Urheberblock, sein Altschlüssel ist durchweg
linkisch, wie im Beispiel zuvor zu sehen).
- Nebenschreiber IIa (= Ia, siehe Abb. 7 bis 9):
Trug "(revised 1965)" nach (siehe hierzu auch Abb. 1, 2 und 6).
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Ein Kuriosum: Korrigiert - und doch nicht
Abbildung 11
Pulcinella-Partituren 1924, Ballett Ziffer 157, Suite Z 72, Violon-
celli, Takt 2: Das vierte Sechzehntel "h" muß ein "dis'" sein.
Der Fehler ist in den revidierten Partituren korrigiert (Orchester-
suite 1949, Ballett 1965/© 1966). Zum vollen Verständnis ist hier
zu ergänzen, daß in Z 157 bzw. Z 72 die Solo- und Orchester-
streicher unisono spielen und im Solocello das richtige "dis'"
steht.
Zur Lage in den betreffenden Leihstimmen des Pulcinella-Balletts,
Satz "4" bzw. "B4": Im "Solo-Cello" und in den Stichnoten des
"Solo-Bass[es]" wurde vom Hauptkopisten I - der Partiturstimme
entsprechend - das "dis'" richtig abgeschrieben, aber erstaunli-
cherweise von VORNHEREIN auch richtig vom Hauptkopisten II in der
Streichorchesterstimme "Violoncelles". Hatte die Solocello-Fassung
als Vorbild gedient? Lag eine wie auch immer korrigierte Partitur
vor? Doch siehe dazu unten...
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Abbildung 12
Pulcinella-Ballett, Leihstimmen Satz "4" bzw. "B4"
"Contrebasse" des Streichorchesters (Satz II), Seite 9 mit den zwei
letzten Systemen. Das vorletzte System schrieb der Erstschrei-
ber, Hauptkopist II. Das letzte System mit Ziffer 157 stammt vom
Nebenschreiber IIa (= Ia), dem die Revision der Stimmen oblag.
Wie zu sehen, enthalten die Stichnoten das falsche "h", wie es auch
die alten RMV-Partituren aufweisen (siehe oben die Abbildung). An-
gesichts dieser Tatsache, ist man etwas ratlos: Was hatte der
Nebenschreiber IIa (= Ia) in diesem System zu korrigieren? Hierauf
ist derzeit keine Antwort möglich, da die Erstfassung nicht bekannt
ist. Oder gab es nur einen einzigen Fehler und zwar das "h"? Wenn
ja, dann hätte der Schreiber den Fehler unaufmerksamerweise wieder
eingefügt (vgl. zu dieser Seltsamkeit auch die Ausführung im Haupt-
text).
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Anmerkung zu den Schreiberabbildungen:
Besonders typische Charakteristika von Notenschriften (Schlüssel,
Noten, Pausen usw.) wurden hier nicht explizite dargestellt, die
Abbildungen dürften auch so - ohne viele Worte und Erklärungen -
einen hinreichenden Überblick vermitteln. Interpreteneintragungen,
die, wie zu sehen, die Dokumente zahlreich aufweisen, sind nur in
Ausnahmefällen kommentiert worden. Zu den Bestempelungen, Datie-
rungen und deren Probleme siehe Haupttext.
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[tafel_pulc_06]
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