Vororientierungen [Stand 1985] Seite 17
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Norddeutscher Rundfunk (NDR): I. Funkhaus Hamburg
1) Aufnahmeräume (heutige Situation kurzgefaßt)
Im großen und ganzen stützt sich die klassische Produktion des Funk-
hauses Hamburg auf den großen Sendesaal (großes Musikstudio, Studio 10).
Daneben werden, offenbar aber nur gelegentlich, auch Räume wie Studio 1
und 12 eingesetzt. Der bei weitem wichtigste Außenraum für Konzertmit-
schnitte ist der große Saal der Musikhalle.
2) Rahmendaten zur Entwicklung
Der NDR stellt mit seinem die Länder Hamburg, Niedersachsen und
Schleswig-Holstein umfassenden Sendegebiet ein verzweigtes Gebilde von
Funkhäusern und Regionalstudios dar, von denen aber für dieses Verzeich-
nis nur das Stammhaus in Hamburg und das Funkhaus Hannover (seit Oktober
1983: Landesfunkhaus Niedersachsen) von Bedeutung sind. Einst umschloß
diese Großanstalt unter der Bezeichnung Nordwestdeutscher Rundfunk
(NWDR) sogar noch zwei weitere Regionalfunkhäuser, den NWDR Köln für
Nordrhein-Westfalen und den NWDR Berlin für Westberlin. Als erster
dieser beiden verließ 1954 der Berliner Sender den Verband (zur Über-
nahme durch den SFB siehe dort). Mit Wirkung vom 1. Januar 1956 folgte
Köln, d. h. an diesem Tag wurde praktiziert, was schon lange vorberei-
tet war: die Teilung des NWDR in NDR und WDR (zum WDR siehe dort).
Zunächst vollzog sich die Spaltung allerdings nur im Hörfunk, denn das
Fernsehen arbeitete noch bis zum 31. März unter der alten Firmierung,
dann aber kam auch hier in Form einer Übergangslösung, des von beiden
Funkhäusern eingesetzten Nord- und Westdeutschen Rundfunkverbands
(NWRV), das Ende. (Die Errichtung des WDR war durch ein Gesetz vom 25.
Mai 1954 beschlossen worden, den NDR hatte man durch einen Staatsvertrag
vom 16. Februar 1955 neu zu einer Dreiländeranstalt geordnet. Einzel-
heiten zu den gesamten Vorgängen vgl. Bausch 1, 1980.)
Genau wie das Haus des Rundfunks in Berlin hat auch das am 8. Januar
1931 eingeweihte Funkhaus des ehemaligen Hamburger Senders, Nordische
Rundfunk A.-G., kurz "Norag", (ab April 1934: Reichssender Hamburg),
Rothenbaumchaussee 132 (nach dem Krieg: 132/34), den zweiten Weltkrieg
ohne größere Beschädigungen sendefähig überstanden. So konnte die
britische Armee, als sie am 4. Mai 1945 das Gebäude besetzte, am selben
Tag noch erste Durchsagen ausstrahlen, die, zusammen mit den sowjeti-
schen Aktivitäten in Berlin, den deutschen Nachkriegsrundfunk vor der
endgültigen Kapitulation der Wehrmacht einleiteten (8./9. Mai).
Zunächst hieß der von den Briten eröffnete Sender "Radio Hamburg".
Doch als im Laufe der nächsten Monate die Rundfunkvorbereitungen in
Köln, dem zweiten Schwerpunkt der britischen Zone, konkretere Gestalt
annahmen, wurde die gesamte Runfunkarbeit zentralisiert und am 22. Sep-
tember 1945 unter dem Dach "NWDR" zusammengefaßt (Sendebeginn des NWDR
Köln: 26. September). Als Sitz wählte man Hamburg. Anfangs strahlte Köln
sein Programm noch auf eigener Welle aus, doch schon vom 1. Januar 1946
an erfolgte dann der Sendebetrieb auf gleicher Welle, d. h. in Form
eines gemeinsam gestalteten Programms (allerdings war Köln in der
Anfangszeit nicht viel mehr als ein Nebensender). Zwei Jahre später, am
1. Januar 1948, trat die britische Verordnung Nr. 118 in Kraft, durch
die der NWDR in eine Anstalt des öffentlichen Rechts umgewandelt wurde.
Er war damit als erster Zonensender aus der Militärkontrolle entlassen.
(Eigentlich müßte es heißen: ... aus der unmittelbaren Militärkontrolle
entlassen. Denn eines sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen wer-
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den: Die Überwachungen der öffentlich-rechtlichen Anstalten endeten im
Prinzip erst mit dem Deutschlandvertrag am 5. Mai 1955. So lange nämlich
blieb alle Rundfunkpolitik den allierten Hohen Kommissaren gegenüber
verantwortlich. Zum Begriff "Militärkontrolle", auch zu seiner sehr un-
terschiedlichen Handhabung, findet man einige Ausführungen in Bausch 1,
1980; so z. B. eine in vielerlei Hinsicht bemerkenswerte Rückschau des
ehemaligen Kontrolloffiziers Golo Mann, in der es unter anderem heißt:
"... [es bestand Habachtstellung] besonders den Kommunisten gegenüber,
weil sie immer wieder Propaganda hereinschmuggeln wollten ... Allmäh-
lich wurde die ganze produktive Arbeit von den deutschen Mitarbeitern
getan, und ich langweilte mich einfach, nur zuzuhören oder Manuskripte
zu lesen, an denen gar nichts [mehr, DP] zu ändern war.")
Die Nachkriegsjahre, insbesondere die Zeit von 1948 bis 1955, brach-
ten für das einstige "Norag"-Funkhaus eine ganze Reihe baulicher Verän-
derungen (Erweiterungen, Um-, Anbauten usw.), es entstand ein ausgedehn-
ter Funkhauskomplex. Natürlich blieb hierbei die Musikabteilung nicht im
Abseits, doch fürs erste hatte sie räumlich keine allzu gravierenden
Probleme zu meistern. Der große Sendesaal von 1931 (Studio 1) war intakt
und den damaligen Ansprüchen sicherlich gewachsen. Über seinen Klang
hätte wahrscheinlich eine der frühen Strawinsky-Aufnahmen - Les noces
unter Wilhelm Schüchter - Aufschluß gegeben, wäre sie erhalten geblie-
ben; denn gerade dieses Werk ist ein äußerst brauchbarer "Akustiktester"
(zur Produktion selbst vgl. die Ankündigung in der Hör Zu!-Ausgabe vom
24.-30. Oktober 1948, sie ist mit sehr informativen Fotos versehen).
Schon zwei Jahre später wurden in diesem traditionsreichen Studio kaum
noch solche Klassik-Aufnahmen produziert, in den Mittelpunkt gerückt war
nun der neue große Sendesaal (Studio 10, vgl. unten). Außer Betrieb
gesetzt war das Studio 1 natürlich nicht, nur die Aufgaben hatten ge-
wechselt; in jüngster Zeit wurde der Raum sogar, gleich anschließend an
die Modernisierung von Studio 10, gründlich überholt (Beginn der Arbei-
ten: Oktober 1980, Wiederinbetriebnahme: 15. April 1982). Geändert hat
sich mittlerweile so manches. Es besteht zwar die innere Raumgestalt
noch, doch verschwunden sind - und das meist schon vor langer Zeit -
fast alle jene Details, die den Sendesaal einst als vielbestauntes
"Wunder der Technik" ausgewiesen hatten. Unten im "Steckbrief" steht in
eckigen Klammern, was verschwunden, umgestaltet oder sonstwie außer
Funktion ist. Wie in Anbetracht der einst stark wandelbaren Akustik der
zitierte Nachhallwert gedeutet werden soll, ist unbekannt. Zwei neuere
Angaben stammen von 1982, sie betreffen den unteren Eckwert der Nachall-
spannbreite: vor 1980 lag er bei 1,2 sec, jetzt beträgt er 0,8 sec
(moderne Tanzmusikanforderungen!).
RR Studio 1 (ehemaliger großer Sendesaal): rd. 3200 cbm (rechteckiger
Grundriß, [veränderbarer Rauminhalt durch hydraulich schließbare,
stockwerkartige Schallgänge in den Seitenwänden, fahrbare Rückwand,
versenkbares Podium, Gips-Kork-"Stalaktiten" an der Decke, Atelier-
oberlicht, Fenster], Welte-Funk-Orgel), 1,5 sec/Q 1952 (variable
Akustik, Vorhang), Tanzmusikorchester (großes Sinfonieorchester),
Bedarfsbestuhlung (keine Empore). Innenraumfotos: Rundfunk Jahrbuch
1931 und 1932; Der Große Brockhaus, Band 15, 1933; Urban, 1948
(Ausschnitt); Breitkreuz, 1982.
Man besaß damals aber nicht nur das Studio 1; es stand für öffent-
liche Konzertveranstaltungen von Anfang an auch die 1908 eingeweihte,
ebenfalls vom Krieg verschont gebliebene Hamburger Musikhalle (Karl-
Muck-Platz, früher: Holstenplatz; nicht: Carl-Muck-Platz) zur Verfügung.
Die Halle, nach den Stiftern auch Laeiszhalle genannt, enthält neben dem
bekannten großen Saal auch einen kleinen, der fast so groß ist wie manch
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ein nach dem Krieg gebauter sogenannter großer Sendesaal (513 qm, Länge:
27 m, Breite: 19 m, Höhe: nicht bekannt, ca. 500 Sitzplätze, keine Gale-
rie, Oberlicht; Innenraumfoto: Unbekannt, Die Laeiszhalle ..., 1908).
Merkwürdig ist, daß in der konsultierten akustischen Literatur über die
Existenz dieses "kleinen" Sales, der sogenannten kleinen Musikhalle,
hinweggesehen wird, und zwar durch den Usus, die Musikhalle mit dem
Hauptsaal begrifflich gleichzusetzten (vgl. auch die Anmerkung zu den
NDR-Karteikarten weiter unten). Einer der Gründe für die auffällige
Nichtbeachtung könnte sein, daß der "namentlich für Quartettaufführungen
bestimmte" Saal (Zitat aus "Die Laeiszhalle ...", 1908) vielleicht keine
günstige Akustik aufweist. Natürlich ist das eine Spekulation, doch so
abwegig ist sie nicht, wenn man auf Fotos sieht, wie sehr der Raum einem
Gewölbe ähnelt, und Gewölbeformgebungen besitzen nun mal keinen guten
Ruf; ihre Akustik gilt als "schwierig".
Auch an der Akustik des großen Saals wurde - allerdings 1950, im
Zusammenhang mit der Erstellung von Studio 10 - Kritik geübt. Sie habe
im besetzten Zustand nur eine Nachhallzeit von 1,2 sec und darüber
hinaus einen zu starken Abfall im Hochtonbereich (vgl. Die Ansage, 27.
Januar 1950). Dieses Urteil läßt sich bei heutigen Konzertmitschnitten
mit ihrem hohen technischen (Aufbereitungs-)Niveau nicht mehr nachvoll-
ziehen, zumindest nicht in der Form, als seien die beiden Nachteile
spezifische Eigentümlichkeiten der "Großen Musikhalle" und andere Säle
wären grundsätzlich anders oder besser.
Kurz nach der Besetzung Hamburgs hatte übrigens die britische Armee
in der Musikhalle ihren British Forces Network eingerichtet. Eine Tat-
sache, die z. B. die seltsam anmutende Ortsangabe "Broadcasting House/
Musikhalle" auf ganz frühen NWDR-Programmen und -Konzertankündigungen
erklärt (vgl. Dokumententeil: 1945 Hamburg). Am 29. Juli 1945 begann der
BFN (seit 1964: British Forces Broadcasting Service) aus der Musikhalle
zu senden, im Februar 1954 zog er um nach Köln-Marienburg.
RR Musikhalle/Großer Saal: rd. 11700 cbm (quaderähnlicher Raum, Grund-
rißskizze siehe unten), 1,9 sec/Q 1950, (2,2 sec/Q 1956 und 1972
[Messung von 1971]), großes Sinfonieorchester mit Chor, ca. 1980
Sitzplätze (Parkett leicht ansteigend, zwei U-Ränge). Innenraumfotos:
Kein Verfasser genannt, Die Laeiszhalle ..., 1908; NWDR, Jahrbuch
1950-1953 (Bühnenpartie mit Orchester).
Trotz der relativ günstigen Raumsituation kümmerte man sich schon
früh darum, zu einem eigenen Musikhaus zu gelangen. Verwirklicht wurde
dies in einer hinter dem Funkhaus in der Oberstraße gelegenen ehemaligen
Synagoge (1930/31 erbaut, heute Kulturdenkmal). Zunächst entstand ca.
1946/47 aus dem Versammlungsraum Studio 11, ihm folgte Studio 12. Beide
sind für kleinere Besetzungen konzipierte Räume, die man 1949 im Hin-
blick auf die Einführung des klanglich anspruchsvollen UKW-Rundfunks
überarbeite. Auf diese zweite Fassung beziehen sich die folgenden Kurz-
daten. Studio 11: rd. 850 cbm, 1,2 sec/Q 1952; Studio 12: rd. 810 cbm,
1,2 sec/Q 1952 (0,8 sec/Q 1956).
Alle Konzentration dieser Zeit richtete sich aber auf die Erstellung
des großen Sendesaals (Studio 10) im Haus Oberstraße. Betriebsfertig war
er ebenfalls schon 1949, doch hatte man sich bei seiner Nachhallzeit
vertan. Sie lag ursprünglich bei über 2,0 sec (eine der genannten Zahlen
lautet sogar 2,4 sec!). Nach etlichen Versuchen, Probekonzerten usw.
wurde die übertriebene Halligkeit auf einen der Raumgröße angemesseneren
Nachhall reduziert, so daß die Einweihung und endgültige Betriebsüber-
gabe am 31. Januar 1950 stattfinden konnte. Sinfonieorchester, Chor und
auch die Kammermusik hatten nun ihre moderne Produktionszentrale erhal-
ten. Entlastet war aber auch das Allroundstudio 1, es diente in Zukunft
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vornehmlich der U- und Tanzmusik und hierbei ganz besonders der Big
Band. Anders verlief die Entwicklung der Studios 11 und 12. Zunächst
wurden beide noch für alle möglichen Aufgaben eingesetzt (auch für Wort-
produktionen), doch nach und nach fungierten sie nur noch als bloße
Probe- und Ausweichräume. Zweifellos hat zu dieser Veränderung auch das
1953 fertiggestellte, mit zwei vollständigen Studiogruppen ausgerüstete
Hörspielhaus beigetragen.
Fast 30 Jahre lang war das Studio 10, man kann sagen, pausenlos im
Einsatz gewesen, bis es dann im Juli 1979 für eine Generalüberholung
(Modernisierung und kleine Umbauten mitinbegriffen) geschlossen wurde.
Die Wiedereröffnung fand am 2. Oktober 1980 mit einem Festkonzert statt.
Damit war ein 14 Monate währendes, mühsames Umverteilen von Produktions-
stätten beendet. Am besten hatte es während dieser Behelfszeit noch das
Sinfonieorchester gehabt, ihm war das Studio 1 zugewiesen worden.
RR Studio 10: rd. 5250 cbm ("Talanlage", Grundriß: rechteckig, Längs-
wände mit Fenstern), 1,8 sec/Q 1950 (1,55 sec/Q 1956), großes Sinfo-
nieorchester mit Chor, ca. 400 Sitzplätze (U-förmig um den Orchester-
platz gruppiert, zur Rückwand hin steil ansteigend). Innenraumfotos:
Technische Hausmitteilungen des NWDR, Februar 1950.
Abbildungen
Topographie. Musikhalle, Studio 10: Grundrisse, Fotos
vgl. Literaturverzeichnis (fehlt noch)
3) Sinfonieorchester, Chor, das neue werk, Podium der Jungen, Strawinsky
in Hamburg, "Pantographie"
Die Gründung des Sinfonieorchesters des NDR kann als treffendes Bei-
spiel dafür dienen, wie sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Aufbauarbeit
gestaltete, z. B. mit Hilfe von Suchexpeditionen durch Flüchtlings- und
Kriegsgefangenenlager. (Eine kurze Schilderung des damaligen Militär-
offiziers Jack Bornoff ist abgedruckt in: NDR, Sinfonieorchester 1945-
1970.)
Chor und Orchester erfuhren bei der Aufteilung des NWDR in NDR und
WDR (Anfang 1956) einen Bezeichnungswechsel. Aus Chor bzw. Sinfonie-
orchester des NWDR Hamburg wurde Chor bzw. Sinfonieorchester des Nord-
deutschen Rundfunks (in der frühen Zeit und später je nach Gelegenheit
auch mit dem Zusatz: Hamburg). Gelegentlich tauchen aber auch andere
Bezeichnungen auf, in den ersten Jahren nach dem Krieg z. B. Chor bzw.
Sinfonieorchester des Senders Hamburg. Der Chor hieß während der Über-
gangszeit Anfang 1956 auch Hamburger Rundfunkchor. (Erinnert das nicht
etwas an Kölner Rundfunkchor?) Für Präzisierungen historischer Bezeich-
nungen geben die Karteikarten des NDR wenig her, denn die älteren Be-
stände sind aus arbeits- oder sendepraktischen Gründen offenbar durch-
weg durch Neuausstellungen - mit Bezeichnungen von heute - ersetzt
worden.
OO Sinfonieorchester des Norddeutschen Rundfunks (Hamburg). Aufbaubeginn
im Juli 1945, erstes Konzert am 1. November in der Musikhalle; Mitbe-
gründer und bis 1971 Chefdirigent: Hans Schmidt-Isserstedt, Wilhelm
Schüchter stellvertretender Dirigent von 1946 bis 1958; nachfolgende
Chefdirigenten: Moshe Atzmon (1972-1976), Klaus Tennstedt (1979-
1982), Günter Wand (seit August 1982).
CC Chor des Norddeutschen Rundfunks. Gegründet 1946 (Arbeitsbeginn 1.
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Mai), erster Chorleiter: Max Thurn (1946-1965, stellvertretender
Chorleiter: Otto Franze, 1946-1964); nachfolgende Leiter: Helmut
Franz (1965-1978), Alexander Sumski (1978-1980), Roland Bader (seit
1983 [Anmerkung: schied April 1986 aus]); von ca. 1948 bis ca. 1967
55 Mitglieder (Verhältnis SA zu TB bei voller Besetzung etwa 32 zu
23), 1947/48 und seit ca. 1967 durchschnittlich 48 Mitglieder (Ver-
hältnis etwa 26 zu 22, schwankend).
[Nachtrag März 2010: Hamburg 1945, unmittelbare Nachkriegszeit. Wohin
der Gang auch führt: Eine Stadt durch Feuerstürme zerfetzt. Ruinen,
Backsteinmauerreste, vereinzelte Hauswände suchend in den Himmel ragend,
Trümmerhalden, Kellergruben hinter Absperrbrettern tot nach oben glot-
zend, Behelfsbuden zu Läden zusammengezimmert, diese oft dem Schutz
zerbrochener Arkaden anempfohlen. Trostlosigkeit. Dennoch, es regte sich
sehr schnell ein Beginn von Sinn. Auch Konzerte gab es schon, wie die
Rubrik Theater - Kunst - Film - Unterhaltung der Neuen Hamburger Presse
verdeutlicht. "Berichte" sind da abgedruckt, nicht Rezensionen, mit
"Kritik" wurde weitverbreitet vorsichtig umgegangen. Dafür gibt es
Gründe, einige. Wie auch immer, die Quellen vermitteln den Eindruck, als
scheine eine Trümmerzartheit zu walten, samten wird versucht anzufassen,
zumindest in den "Kritiken". So sagt ein Dr.H.W.-W. zu einer Aufführung,
die das aus dem Kreis der Philharmoniker frisch gebildete "Hamburger
Streichquartett" gab: "[Das] Einführungskonzert [des Quartetts] brachte
in sehr diszipliniertem Zusammenspiel, das sich klanglich wohl noch ver-
feinern ließe, Werke der Klassiker Haydn, Mozart und Beethoven". Heute
würde so etwas angesichts einer solchen Anspruchsebene in der Regel
etwas anders lauten.
Die genannte Rubrik hat aber noch einen weiteren "Bericht" zu bie-
ten. Dieser betrifft das unten in der Abbildung gezeigte Konzert. Man
beachte dabei, was oben gesagt wurde: Hamburg ist in dieser Zeit unter
britischer Militärverwaltung, deshalb die Bezeichnung der Musikhalle
als Broadcasting House. Abschrift des Artikels:
Zweites Konzert
Rundfunk-Sinfonie-Orchester
So abwegig es ist, bei qualitativ derart hochstehenden
Leistungen wie denen dieses Sinfonie-Orchesters unter
Leitung seines Dirigenten Hans Schmidt-Isserstedt von
Technik zu reden als dem Mittel zur Überwindung irgend-
welcher Schwierigkeiten, so unumgänglich ist es, den
Begriff "Technik" heranzuziehen zur Erklärung der faszi-
nierenden Wirkung, die von Edward Elgars Introduktion und
Allegro für Streichorchester, Strawinskys Feuervogel-
Suite und der zweiten Sinfonie von Sibelius ausging:
"Technik" hier in dem Sinne genommen, wie Mittel in einem
höchst persönlichen Gestaltungsprozeß durch den Dirigen-
ten zur Verwirklichung seiner Absicht auf einmalige Weise
und daher mit einmaliger Wirkung eingesetzt werden.
War in dem Werke {*1} von Elgar alles auf Plastik der
Linie abgestellt, so daß die kammermusikalischen Werte
dieser ausgezeichneten, Brahmssche Einflüsse ganz eigen-
artig verwertenden Musik in reizvoller Aussprache zwischen
einem Soloquartett (Röhn, Hamann, Doberitz, Danyi {*2})
und dem Streichorchester zu voller Wirkung gelangten, so
in der Suite von Strawinsky alles auf subtilste Farbe und
differenzierteste Dynamik. Auf Grund eines virtuosen
Zusammenspiels stellte sich wieder der große durchschla-
gende Erfolg ein, der einst (1910) {*3} den Komponisten
weltberühmt machte.
Die glänzenden Eigenschaften des Orchesters ermöglich-
ten Schmidt-Isserstedt auch der zweiten Sinfonie von
Sibelius den Erfolg zu sichern, der dem großen finnischen
Sinfoniker gebührt. In der Form ebenso eigenartig wie in
der Instrumentierung, weist diese Musik in ihrer boden-
ständigen Melodik und Harmonik eine massive Gebundenheit
auf, welche die relative Unbekanntheit der sieben Sin-
fonien in Deutschland erklärlich erscheinen läßt.
Ein beglückendes, seit langem nicht mehr erlebtes
Musizieren löste Beifallsstürme für das Orchester und
seinen überragenden Bildner und Leiter Schmidt-Isserstedt
aus. Dr.W.B.
In: Neue Hamburger Presse (Wochenzeitung der britischen Militär-
regierung, existierte vom 9.6.1945 bis zum 30.3.1946), 17.11.1945
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Nach dem Weltkrieg
15. November 1945
Eine "Vortragsfolge" des Sinfonie-Orchesters des NWDR
mit
Strawinskys Gleichnis vom Höllentanz und Ende Kastcheis
(Dank an das Orchesterbüro des NDR Sinfonieorchesters für diese mir
1983 zugeschickten Materialien. Für das Programm wurde eine Verkleine-
rung gewählt, bei der man gerade noch alles lesen kann. Kleiner Fehler
auf dem Programmzettel: Kastchei ist kein König, er ist ein Zauberer,
ein Tyrann.)
{*1} Hymnische Sprachgestaltung, einst weitverbreitet, besonders im
"Dritten Reich".
{*2} Erich Röhn, Violine, Bernhard Hamann, Violine, Ernst Doberitz,
Viola, Ferdinand Danyi, Violoncello.
Für verzwickt-verwickelte Musikerwerdegänge während der Kriegs- und
Nachkriegszeit gibt es etliche Vergleichsfälle (siehe den von Rudolf
Klietz, Abteilung "Igor Strawinsky und die RRG", Die Geschichte vom
Soldaten, in Vorbereitung). Auch Ferdinand Danyi ist ein solcher
Fall: Er ist im Haus des Rundfunks tätig, erlebt den entsetzlichen
Kampf um Berlin mit, es verschlägt ihn nach dem Krieg ins Sinfonie-
Orchester des NWDR, kehrt 1950 zum HdR zurück, ist dort ein Mitglied
des 1945 gegründeten Berliner Rundfunk-Sinfonie-Orchester (wobei er
zwar in der neuen Umgebung schon 1950 Aufnahmen macht, doch in der
"Orchester-Besetzung", die der Festschrift "25 Jahre Berliner Rund-
funk-Sinfonie-Orchester", Festkonzert, 18. Juni 1950, beiliegt, noch
nicht genannt ist), schließlich wechselt er mit diesem seinem so
vertrauten Arbeitsplatz (nolens volens?) Anfang der 1950er Jahre in
die DDR. Dort wird Danyi als Solist sehr bekannt.
Er ist auch der Solist auf einer seltenen US-amerikanischen 30-cm-LP,
Urania URLP 7143, (c) 1955: Camille Saint-Saëns, Sinfonie Nr. 2 in
a-moll, op. 55, Cello-Konzert Nr. 1 in a-moll, op. 33, Berliner
Symphoniker (wahrscheinlich ein Studio-Orchester, bestehend aus Mit-
gliedern des Berliner Rundfunk-Sinfonie-Orchesters [Ost] und des 1952
gegründeten Berliner Sinfonie-Orchesters/BSO [Ost], Rolf Kleinert,
Dirigent. Ebenfalls veröffentlicht auf Classic Platten Club, dieser
"Club" agierte Mitte der 1950er Jahre international mit Zweigstellen
in Zürich, Frankfurt am Main, Brüssel, Wien, New York und Toronto.
Solche - meist an Mitgliedschaft orientierten - Platten-"Clubs" gab
es damals zahlreich. Beachte das die Ideologien vernachlässigende
Plattengeschäft: Das amerikanische "independent label" Urania ver-
öffentlichte DDR-Bandaufnahmen (sehr viele übrigens), darunter zu
einem großen Teil solche, die noch der sowjetisch kontrollierte
Berliner Rundfunk der direkten Nachkriegszeit produziert hatte, zur
Zeit also als der Sender noch im Haus des Rundfunks ansässig war (zu
den Anfängen des Berliner Rundfunks und seines Orchesters siehe unter
SFB).
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