Kelkheim 1934 - 1
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IN ARBEIT
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Vorbemerkung (in Vorbereitung): Fabian von Schlabrendorff schreibt
in seinem Buch "Offiziere gegen Hitler" (1946, 2/1959, S. 18), wie sehr
ihn das Gehabe der Nationalsozialisten abstieß und daß er allein schon
von daher immun wurde gegen ihre allgegenwärtigen, elitären Beeinflus-
sungsversuche.
Hier sollen Beispiele aus dem Höchster Kreisblatt folgen, wie sehr
der Main-Taunus-Kreis vom Nationalsozialismus infiltriert war, und warum
dieses Gemeinschaftsgetue auf schlichte Gemüter so gefährlich einwirken
konnte. Gleichzeitig wurden mit dem Gemeinschaftswahn aber auch in rei-
chem Maß militaristische und opportunistische Gelüste bedient.
Der Ton macht die Musik
Im Übrigen achte man ganz besonders auf Folgendes: Derlei Nachrich-
ten, Berichte und Artikel aus dem Höchster Kreisblatt sind sehr oft
aufgeladen mit einem eigentümlichen weihevollen, erhebenden, "bewegen-
den" Tonfall. Er "durchströmt" oder "durchweht" das ganze Blatt in
dieser braunen Zeit, ganz offensichtlich soll er "emporheben". Es ist
ein unüberhörbarer, "erhabener" Klang, er soll klingen in einem, in
jedem, er soll wie ein Gedicht, wie Musik "bewegen". Und die national-
sozialistische "Bewegung" wollte ja in der Tat "bewegen". Selbst die
stumpfeste Trivialität, der größte Blödsinn soll so durchs getrimmte
Nazi-Herz und -Hirn beseelte Bedeutung erwirken, Wichtigkeit, Status -
mehr noch: Beamtenhörigkeit und Staatsbewunderung, das sollten die
stetig gefühlten Leitplanken des Lebens sein. Ein sehr alter Ton
klingt da übrigens an. Er läutet aus der Kaiserzeit und der Zeit davor
herüber.
Eine typisch nationalsozialistische Klangfärbung ist da, sie ist
gegenwärtig, es tönt gottesdienst-, messenähnlich. Und von diesem
Bereich, vor allem dem katholischen mit seinen Weihen, Prozessionen,
Fahnen und Heiligenverehrungen, hat der Nazi-Ritus denn auch umdeutend
sehr viel abgekupfert. Ja, selbst grausamste Kriegsberichte von 1939
an sind in der Heimatzeitung, wie sich das Höchster Kreisblatt bei
jeder Gelegenheit apostrophierte, durchgeistert von dieser seltsamen
Nazi-Weihe, dann allerdings mit Blei, Sprengstoff, Zerbersten und Zer-
fetzen vermengt. Eine bizarre, fratzenhafte "Höllenwelt".
Es ist nicht übertrieben: Gerade die Wiedergabe solcher Texte in
Gänze hilft, das alles zu erspüren lernen. Sachlich geschriebende Texte
fangen davon in der Regel noch nicht einmal einen Bruchteil ein. Ja, je
sachlicher sie angelegt sind, umso emsiger sie sich um treffenden Aus-
druck und ausgeklügelte Differenzierung bemühen, so spürt der "Kenner"
des "nationalsozialistischen Tons", um so deutlicher entfernen sie sich
von der Darstellung des Objekts. So wird schlicht und einfach der Zugang
erschwert, nachzuempfinden, gewahr zu werden, warum ganze Volkschaften
auf den Nationalsozialismus hereinfielen. Zweifellos, für um Aufklärung
bemühte Forschung eine dilemmatische Situation.
Wer viel im Höchster Kreisblatt der Zeit (1933 bis zum Veröffentli-
chungsende am 31.5.1941) liest, der dürfte ähnliche Beobachtungen an
sich machen: Obwohl die nationalsozialistische Manie und Angeberei der-
maßen lächerlich ist - man kann nicht lachen. Das gilt auch für die
Witze da, für Karikaturen, für alles normalerweise Lustige. So mag heute
ein "Grünes Brett" oder "Rotes Brett" für sich ja ein ganz netter Ein-
fall sein, doch wie sieht's mit der Rubrik im Höchster Kreisblatt "Das
braune Brett" aus? Versuchen Sie mal für sich selbst, ob Sie diesen
Titel witzig finden können. Wenn ja, dann scheinen Sie für makabre
"Welten" eine Ader zu haben - aber irgendwann, so ist zu vermuten,
dürften die Horrorrevuen, aufgerufen durch eigenes Vorbeispulen von
Mikrofilmen, auch Ihnen auf die Nerven gehen.
HK, Dienstag, 30. Januar 1934, S. 7, Rubrik: Aus dem Main=Taunus=Kreis
→ »»
Pflanzung einer Hitlerlinde in Kelkheim. {*1}
Die ursprünglich für den heutigen 30. Januar, den Jahrestag der
nationalsozialistischen Machtergreifung vorgesehene Pflanzung einer
Hitlerlinde zur ewigen Errringung [meint: Erinnerung] {*2} an diesen
denkwürdigsten Tag in der deutschen Geschichte {*3}, wurde bereits
am letzten Sonntag {*4} vorgenommen, da gemäß dem Willen des Führers
der 30. Januar von allen äußeren Feiern frei bleiben soll. Um 3 Uhr
sammelten sich sämtliche Ortsvereine und die örtlichen Gliederungen
der NSDAP. {*5} und zogen in geschlossenem Zug zur Wilhelmstraße, wo
an der Biegung nach der Adolf=Hitler=Straße zu die Linde ihren Platz
erhalten hat {*6}. Nachdem der Sturmführer der Motor=SA. S t r z o d a
[Strzoda] {*7} die Einpflanzung vorgenommen hatte, richtete
Ortsgruppenleiter Pg. L a u e r [Lauer] {*8} das Wort an die Anwesenden
und warf einen kurzen Rückblick {*9} auf das vergangene 1. Jahr
nationalsozialistischer Regierungstätigkeit mit seinen gewaltigen
Marksteinen der großen erhebenden Tage. Bürgermeister R i t t g e n
[Rittgen] {*10} nahm den jungen Baum in den Schutz und die Obhut der
Gemeinde und betonte, daß er ein lebendiges Erinnerungszeichen und ein
Symbol des geeinten deutschen Vaterlandes sein solle. Mit dem Lied der
Deutschen und dem Horst=Wessel=Lied {*11} fand die kurze, aber
eindrucksvolle Feier ihren Abschluß, worauf sich der Zug wieder in den
Ort zurückbegab {*12}.
«« ←
Textvergleich(e): 4 (4.8.2015, 22.4.2017, 11.10.2017, 25.2.2018)
{*1} Zu diesem Zeitpunkt war Kelkheim noch eine Gemeinde für sich,
denn die Eingemeindung von Münster und Hornau erfolgte erst am
1.4.1938. Beachte: Die "Eingemeindung" war ein nationalsozia-
listischer, diktatorischer Verwaltungsakt, es war eine "Ein-
gliederung", um es in nationalsozialistischer Parteiterminologie
auszudrücken (zur nationalsozialistischen Stadtgründung siehe
unter 1938 und unter "Themen").
{*2} Errringung: Wortüberlagerung, "Erinnerung" mit "Erringung", so
eine Art nationalsozialistischer "Freudscher Setzfehler".
{*3} Zu dieser Angeberei siehe die Einleitung.
{*4} Also am 28.1.1934.
{*5} "Sämtliche Ortsvereine und die örtlichen Gliederungen": Ausfüh-
rung in Arbeit
{*6} Das ist der Platz vor der heutigen evangelischen Kirche. Zu die-
ser Wahl ist eine Darstellung in Vorbereitung (ebenso zum Bau
der evangelischen Kirche und zur mutmaßlichen Grundausrichtung
der evangelischen Gemeinde in Kelkheim im Dritten Reich).
{*7} Emil Strzoda, geb. 22.12.1892, Moschen, Oberschlesien (nach 1945
Mosza, Polen). Polsterer, Angabe im "Meldebogen" des Entnazifi-
zierungs- und Entmilitarisierungsgesetzes von 1946: Polsterei.
Wo, fragt man sich, weil so kaum auffindbar (z.B. nicht im MTK-A
1939, weder im Personen- noch im Branchenteil {*a}); des Rätsels
Lösung: Strzoda war mit der SA-Escher-Dynastie liiert, Beginn
der Zusammenarbeit offenbar 1929; "Escher & Co" taucht späte-
stens 1931 in der Taunustraße 28 auf (ab 1933: Adolf-Hitler-
Straße), 1937 wechselt man in die Werkstätten der offenbar auf-
gekauften Firma ("Möbelfabrik") Gebrüder Sieglen, Wilhelmstraße
15, hier firmiert Strzoda separat als Hersteller von Tischen und
Kleinmöbel, macht sich dann ein Jahr später selbständig, er
kommt unter in der Schreinerei Heinrich Herr 8., Hornauerstraße
31, hier ist er bis 1940 nachgewiesen unter "Tische und Klein-
möbel", aber auch "Fabrikation u. Verkauf von Polster= und
Kleinmöbel" (überprüft wurden die Adreßbücher Ffm-A 1930 bis
1943 jeweils Kelkheim); ab Mai 1940 war Strzoda dienstverpflich-
tet und im Auftrag des Regierungspräsidenten dem Landratsamt
Frankfurt-Höchst zugeteilt, ab 1.8.1943 dort Fahrbereitschafts-
leiter für den Main-Taunus-Kreis, zudem für die Benzinrationie-
rung und -zuteilung zuständig, ein NS-Job, dem ein Ritt auf
einer Rasierklinge nicht unähnlich gewesen sein dürfte.
{*a} Allerdings ist er im MTK-A 1939 auf Seite 7 im "Dienststel-
lenverzeichnis der NSDAP. des Kreises Maintauus-Obertaunus"
angegeben und zwar unter "Gliederungen der NSDAP.": NSKK,
Sturm 7/M 148, unter Rang: Obersturmführer, Ortsangabe:
Kelkheim i. Ts. (leider keine Straßenangabe; die Straßen-
spalte bleb unausgefüllt, weil das NSKK in Bad Soden keinen
Amtssitz hatte).
Wohnhaft ist Strzoda in der Adolf-Hitler-Straße 8, nach Kriegs-
ende ebenfalls (allerdings wegen der Umbenennung: Altkönigstraße
8), so nach persönlichen Angaben, war aber "unterwegs", u.a. in
Giessen, verstand sich mit Raffinesse durchzulavieren u.a. als
Gärtner beim CIC (Counter Intelligence Corps) in Kelkheim, Gun-
delhardstraße, und in Sachen Generatorholz-Spritproduktion bei
der nicht minder cleveren Nachkriegsgewinnlerfirma Dichmann AG,
Hauptstraße 15.
Beachte: Die Häuser Adolf-Hitler-Straße (später Altkönigstraße)
2 bis mindestens 10 oder 12 waren durch einen Luftangriff in der
Nacht zum 3. Februar 1945 erheblich getroffen bzw. beschädigt
worden, ausgebombt davon im Anfangsbereich zumindest zwei, wohl
bis auf die Grundmauern (Nachkriegserinnerung dieses Verf.,
siehe auch das Foto samt Datierung in Kleipa 1999, S. 28; übri-
gens wurde das Nachkriegsanwesen Altkönig(seit 1956: Frankfur-
ter)straße Nr. 6, Wohnhaus und Praxis des außerordentlich popu-
lären Dr. Adolf Brandt, auf einem der Totalschadengrundstücke
errichtet; über Brandt, der Strzodas NSKK-Sturm angehörte, wird
hier noch zu reden sein, wie später der andere in Kelkheim-Mitte
zentrale Arzt, Dr. Loos (siehe unten), war auch Dr. Brandt
NSADP-Mitglied).
Die Nummer 8 der Adolf-Hitler(dann Altkönig)straße war somit si-
cherlich schwer beschädigt, wohnte also Strzoda wirklich dort?
Wohnhaft später, offenbar als Untermieter, bei Berta und Wilhel-
mine Sch., Hornauerstraße 3 (Strzoda nicht in MTK-A 1939 und
MTK-A 1952 nachgewiesen, aber in MTK-A 1950: Altkönigstraße 8;
Berta Sch. nicht in MTK-A 1939, aber angeführt in MTK-A 1950 und
1952).
Strzoda war u.a. in der NSADP, leitete das NSKK (Hauptsturmfüh-
rer), war von der amerikanischen Militärregierung mehrfach in-
haftiert worden; seine Spruchkammerakte samt den Berufungsver-
fahren hat einen erheblichen Umfang; Meldebögen von beiden Sch.
liegen ebenfalls vor (ausführliche Erörtung andernorts unter
Strzoda in Vorbereitung; Quellen: u.a. HHStAW Spruchkammerakte
Strzoda).
Beachte: Das Gebiet rund um die Amtsstelle der NSDAP-Ortsgruppe,
Bahnstraße 17, und das Café Bender, Hornauerstraße 1 (eigentlich
Bahnstraße zwischen 12 und 14), also der Straßenkomplex mit der
Kreuzung Poststraße (heute Friedrichstraße), Adolf-Hitler-Straße
(heute Beginn der Frankfurter Straße), Bahnstraße und der Ein-
mündung der Hornauerstraße samt den angrenzenden Nachbarschaften
war damals nicht nur geschäftlich das Zentrum von Kelkheim (ge-
meint ist nicht nur von Kelkheim-Mitte), sondern ganz besonders
auch parteipolitisch, wobei das Café Bender des Jägers, Jagd-
pächters (Dickenet) und Pg Joseph (Perre) Bender {*a} ein wich-
tiger Zusammenkunftsplatz war. Hier innerhalb dieses Bereichs
Kelkheims (Mitte) spielte sich sehr viel Nationalsozialismus ab,
aber bei weitem nicht der ganze und vom eigentlich gefährlichen
nur ein Teil. (Zum für die Kelkheimer Nachkriegssozialgeschichte
wichtigen Platz Hornauerstraße 1, also dem Platz vor den einsti-
gen Eingangsholztoren des Perre Bender, links: Hornauerstraße 1,
und des Gemüse- und Lebensmittelladens Johann Lorsbächer,
rechts: Hornauerstraße 3, ist eine Darstellung in Vorbereitung,
auch aus eigenem Erleben heraus: Dort stand nämlich rechts ein
großes Sandsteinkreuz mit einem Corpus Christi, das das Dritte
Reich zwar überstand, doch die Christdemokratie Kelkheims nicht
- an dieses Thema läßt sich übrigens noch so manches anfügen).
{*a} Nach Katasterunterlagen: Peter Josef Bender I; der in der
Nachkriegszeit von jedermann gebrauchte Spitzname "Perre" kommt
wahrscheinlich von "Pierre", Stichworte: Kelkheim nach dem
Ersten Weltkrieg, französische Besatzung; Unterschrift 1929:
Josef Bender, so auch die Unterschrift auf Strzodas NSKK-Liste
von 1947 (zu diesem Namenszug und auch zu anderen auf der Liste
ist eine Darstellung geplant).
{*8} Joseph Lauer, geb. 22.9.1888 in Salmünster (bei Schlüchtern),
(Ober-)Postmeister, Kelkheim-Mitte, Poststraße 4 (MTK-A 1939;
Poststraße 4: Nach der Erinnerung dieses Verf. war das Postamt
dort bis 1959 oder 1960, im Stadtplan 1961 des Stadtbauamts ist
es schon in der Parkstraße eingezeichnet; das Gebäude "Post-
straße 4" steht noch).
Lauer trat schon vor (!) 1933 in die NSDAP ein: 1.2.1932, kurz
darauf, am 1.6., zog er nach Kelkheim, war Ortsgruppenleiter
(nach eigenen Angaben im Meldebogen des "Entnazifizierungsge-
setzes" vom 5.3.1946): 1.11.1933 bis 3.8.1934, außerdem noch
Mitgliedschaft in sieben weiteren NS-Verbänden, hatte außer
dem Amt Ortsgruppenleiter auch das des 1. Gemeindeschöffen inne,
zog nach Kriegsende noch im Jahr 1945 nach Dauborn (Kreis Lim-
burg), Schulstraße 11; Verhaftung 1945 durch die amerikanische
Militärregierung, saß zunächst im Lager Ludwigsburg ein, danach
im Lager Darmstadt, Rheinstraße. Sein Nachfolger auf dem Orts-
gruppenleiterposten wurde schon 1934 oder erst 1935 (?) Georg
Seebold 5. (siehe weiter unten). Lauer hatte aber auch einen
Vorgänger: Dr. Hans Schlichenmaier, Lorsbacher Weg (Nummer bis-
lang unbekannt, nachgewiesen in Ffm-A 1931 Kelkheim, Stand:
1930, zu Lorsbacher Weg siehe unten).
Schlichenmaier, geb. 5.6.1896 zu Reutlingen, war Chemiker, Ange-
stellter in der I.G. Farben Werk Höchst; dort, in der "Rotfa-
brik", spielte er offenbar eine gewisse Rolle, war Patentinha-
ber, gehörte der Nationalsozialistischen Betriebszellenorgani-
sation (NSBO) an, der "SA der Betriebe", trat als ihr engagier-
ter Redner auf. In Kelkheim war er allerdings "nur" NSDAP-Stütz-
punktleiter, auch hatte er anscheinend diese Führungsfunktion
nur kurz inne (Anfang der 1930er Jahre bis wohl Oktober 1933),
war aber dennoch in diesen Anfangsjahren des Kelkheimer Natio-
nalsozialismus eine zentrale Figur (zu Stützpunkleiter siehe
unten). 1934 zog Schlichenmaier nach Frankfurt-Unterliederbach
(in ein eigenes Haus: de Ridder Weg 1), er ist da bis 1943 nach-
gewiesen (1943 kam im Krieg das letzte Frankfurter Adreßbuch
heraus), dann verlieren sich nach gegenwärtigem Kenntnisstand
die Spuren.
Das aber ist nun (Juli 2020) ganz so krass nicht mehr der Fall.
Denn es liegt inzwischen zu Schlichenmaier eine sogenannte
Spruchkammerakte vor (sie enthält Unterlagen des Festellungsver-
fahrens, das dem Spruch voranging, der nach dem am 5. März 1946
erlassenen Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und
Militarismus zu fällen war; Quellenstandort: HHStAW).
Auf Schlichenmaiers Lebenslauf und Tun bis in die Nachkriegszeit
wird andernorts genauer einzugehen sein. Deshalb hier nur ein
paar sehr kurze Anmerkungen: Schlichenmaier war in etlichen NS-
Organisationen Mitglied. Er trat schon im Februar 1931 in die
NSDAP ein, ja sogar einen Monat früher in die NSBO. Die Mit-
gliedschaft zu dieser letztgenannten NS-Organisation verschlei-
erte Schlichenmaier durch seine Zeitangabe zur Deutschen Ar-
beitsfront (DAF) in den - wie nach dem oben genannten Gesetz
vorgeschrieben - von ihm beizutragenden Informationen. Er nutz-
te hierbei offensichtlich einen die Sache betreffenden kapitalen
Fehler des Gesetzes aus. Denn Schlichenmaier gab für den Ein-
tritt in die DAF "1934" an, er hätte aber einerseits seine Mit-
gliedschaft zu der im Gesetz nicht angeführten Vorgängerorgani-
sation der DAF, also die NSBO, angeben müssen und damit verbun-
den auch die korrekte Jahresangabe "1931" (zu dem erheblichen
Fehler im "Befreiungsgesetz" siehe andernorts).
Beachte: Für den Aufbau des Nationalsozialismus in Kelkheim
- insbesondere für die Wertevorstellung des Kelkheimer hand-
werklichen Zentrums, der Gebrüder Dichmann A. G. - spielten die
Gründung der NSBO und deren von Hitler erzwungene Fortführung
durch die DAF eine ganz wesentliche und auf keinen Fall zu un-
terschätzende Rolle. Hier dürfte der Keim für Vieles - letzt-
lich so Unverständliches - zu suchen sein.
Das Amt "Stützpunktleiter" scheint sich in den Aufgaben im
Grunde nicht von der nächsthöheren Stufe "Ortsgruppenleiter"
unterschieden zu haben. Mehr noch: Nach der bisherigen Akten-
kenntnis war ein Stützpunktleiter offenbar wie ein Ortsgrup-
penleiter ein Hoheitsträger (das überrascht, denn nach der
üblichen Darstellung waren die politischen Hoheitsträger der
NSDAP Ortsgruppenleiter, Kreisleiter, Gauleiter und der Führer,
siehe auch weiter unten)
Unter der Ortsgruppenleiterebene gab es die unter Umständen noch
recht selbstständige Funktion "Zellenleiter", so hatte z.B. das
kleine "Einstraßendorf" Altenhain - mit Haus- statt Straßennume-
rierung - einen solchen (MTK-A 1939: Jakob Gottschalk, Schuhma-
chermeister, Haus-Nr. 71; Altenhain, gleiche Quelle: 473 Einwoh-
ner, höchste Hausnummer: 76).
Stützpunktleiter unterstanden offenbar wie die Ortsgruppenleiter
direkt dem Kreisleiter. Zellenleiter hingegen waren einem Orts-
gruppenleiter disziplinarisch zugeordnet, doch hatten die Zel-
lenleiter von Dörfern oft eine größere Selbständigkeit als die
Zellenleiter in Städten, diesen wiederum waren im Allgemeinen
und naturgemäß mehr Blockleiter zugeordnet als in Dörfern.
Zunächst bildeten die Blockleiter die unterste Stufe der Partei-
hierarchie. 1937 wurde dann jedoch die Funktion "Blockhelfer"
eingeführt, und gerade durch diese untersten "Helferdienste" der
Blockleiter und -helfer, der "Blockwarte" {*a} - mit solchen
Diensten funktionierte insbesondere auch das System der DAF
(Deutsche Arbeitsfront) und das der NSV (NS-Volkswohlfahrt) -
spürten Familien, erlebte jeder Einzelne den Nationalsozialis-
mus nicht mehr oder weniger von ferne (durch Bekanntmachungen,
auf Veranstaltungen, im Radio, aus der Zeitung usw.), sondern
"hautnah" im Alltag, wie Atmosphäre, wie Luft, tagtäglich.
{*a} Zum bekannten Begriff "Blockwart": Dies war die Vorgänger-
bezeichnung für "Blockleiter". Der Begriff "Blockleiter"
wurde offenbar Ende 1933 eingeführt, während "Blockwart"
dann amtlich eigentlich nur noch im Bereich der Deutschen
Arbeitsfront verwendet wurde und zwar in Begriffsverbindun-
gen. In der Umgangssprache aber hatte sich für den Block-
leiter der Partei "Blockwart" weit verbreitet eingebürgert
und dieser Begriff wurde dann später auch oft auf den
Blockhelfer übertragen, denn beide Funktionen unterschieden
sich, was die "Bevölkerungsbetreuung" anging, im Prinzip
nicht.
Zum grundsätzlich bedeutsamen Status "Politischer [!] Lei-
ter": Alle diese unteren Funktionen, auch die Blockhelfer,
zählten, wenn sie, vom Ortsgruppenleiter zunächst beauf-
tragt, durch den Kreisleiter nach einem bestimmten Aufnah-
meprocedere (arischer Stammbaumnachweis usw.) eine partei-
amtliche Ernennung ("Bestätigung") erfuhren, zum erlauchten
"Korps der Politischen Leiter". Ein "Politischer Leiter",
also Funktionär, konnte im Prinzip jeder Parteigenosse wer-
den (den etwas kryptischen Begriff "Leiter" entzaubert man
am besten mit "Lenkender", "Leitender" oder auch "Führer"
im Sinn von politisch führen, erziehen, "betreuen", was
nichts anderes meint als beeinflussen und infiltrieren;
eine anschauliche, ausführliche Diskussion der Auffassung
des Nürnberger Tribunals zur Personengruppe der "Politi-
schen Leiter", inwieweit sie als verbrecherisch zu erklären
sei, findet man im juristischen Kommentar Priese/Pokorny,
IV/S. 317 ff.).
Beachte zu "Hoheitsträger": Die Kommentare zum Befreiungs-
gesetz (Schullze 1948, Priese/Pokorny 1946/1947, Scheer-
barth 1947, zu ihnen siehe andernorts) geben dem Gesetz
beigeordnetes Material wieder, das besagt, daß ein Reichs-
leiter kein Hoheitsträger sei, wohl aber seien dies die
untersten Funktionsträger der NSDAP, die Zellen- und Block-
leiter. Eine solche einschränkende Aussage zur Reichslei-
terfunktion ist höchst erstaunlich, denn ein Reichsleiter
war immerhin, abgesehen vom Führer, die höchste Rangstufe
der NSDAP.
Somit steht der im Schullze 1948 auf Seite 268 im Kapitel
"Funktionäre der Partei" abgedruckte Satz "Politische
Hoheitsträger waren Ortgruppenleiter, Kreisleiter, Gau-
leiter, Reichsleiter und der Führer" im Widerspruch zu
sonstigen Aussagen und ist wahrscheinlich als falsch anzu-
sehen (Fettsatz von diesem Verf.); zur Einführung in die
Organisation der NSDAP siehe u.a. Schullze 1948, S. 253
ff., für hier besonders S. 268 ff., und siehe auch die auf-
klappbare Tafel "AV6 b (zu S. 168)": "Zu III", wo die Auf-
stellung "2. Hoheitsräger" mit dem folgenden Hinweis einge-
leitet wird: "Hoheitsträger waren hervorgehobene politische
Leiter, die Vertreter der NSDAP für ein räumliches Gebiet
nach innen und außen. Die Reichsleiter waren keine Hoheits-
träger.", dementsprechend ist in der Aufstellung die Funk-
tion "Reichsleiter" nicht genannt.
Randbemerkung zu Friedrich-, Wilhelm-, Gustav-Adolf-Straße
Zur Poststraße: heute Friedrichstraße, offenbar in Anlehnung an
Kaiser Wilhelm und die Wilhelmstraße wohl auf Friedrich den
Großen oder einen anderen dieser dynastischen Friedrichs
gemünzt; und man glaubt es kaum, doch das Ende der Wilhelm-
straße, das Stück von der evangelischen Kirche bis zur Frank-
furterstraße, wurde um 1960 zu Gustav-Adolf-Straße umbenannt.
Wann genau das war, war bis jetzt nicht herauszufinden. Aber
immerhin: Im Örtlichen Fernsprechbuch Kelkheim (Taunus) von
1956 (Stand: 1.7.1956) und dem vom August 1957 (Stand:
1.6.1957) hat z.B. die Bäckerei der Margarete Westenberger
noch die traditionelle Adresse Wilhelmstraße 28 (Nummer im
MTK-A 1939: 30, anderer Inhabername; die Wilhelmstraße erlebte
in den 30er Jahren eine Umnumerierung - und offenbar teilweise
zurück). 1961 ist dann im Stadtplan des Stadtbauamts schon die
neue Bezeichnung angeführt. Also dürfte zwischen diesen Eck-
datierungen die heroisch-orienierte Umbenennung passiert sein.
Aber scheinbar besteht diese heute nicht mehr, wie ein Spazier-
gang Anfang 2017 zeigte. Jedenfalls war die Erinnerung an den
Dreißigjährigen Krieg laut Beschilderung passé, zu lesen war
wieder: Wilhelmstraße. Demgegenüber enthalten aber kurioserweise
die Jahrgänge des Telefonverzeichnisses "Das Örtliche" der letz-
ten Jahre, z.B. 2015/2016 und 2016/2017, (immer noch?) die Be-
nennung nach dem protestantischen königlichen Feldherrn.
Somit wird zumindest ein weiterer Spaziergang nötig sein. Was
eine Tortur ist in diesem vielfach so verkorksten angeblich
"Neuen Kelkheim".
Allein schon, daß das bis etwa 2014 noch existente schmucke,
architektonisch wertvolle Häuschen nördliche Ecke Wilhelm-
straße/Frankfurterstraße vernichtet wurde (der nachkriegs-
zeitlichen Erinnerung nach damals versehen mit Vorgarten und
schmiedeeisernem Zaun). Es war im Übrigen zwischenzeitlich schon
seit langem durch das (einstige) Electronic-Geschäft des Willi
Born zu Ausstellungsräumen in umgebauter und verschandelter Form
genutzt worden. Und nun, 2016, wurde dort im Sinne des "Neuen
Kelkheims" ein riesiger Neubau-Klotz erstellt, wie auf dem Bau-
schild zu lesen war, gedacht u.a. als Wohnsitz für alte Leute.
An der lautesten Binnenstraße der Stadt wird so das Geld aus
der Tasche gezogen, allerdings sind es offenbar Taschen sehr
betuchter Besitzer(innen), angelockt durch fadenscheinige
Werbung: Altersruhesitze der kurzen Wege.
Zur Einweihung, zu der der Bürgermeister Albrecht Kündiger es
sich nicht nehmen ließ, persönlich zu erscheinen, veröffent-
lichten die Taunus-Nachrichten am 22.7.2015 unter dem Titel,
"Eine Stadt ändert sich [-] Die Aufwertung der Frankfurter
Straße" einen Bericht, der unfreiwillige Komik enthält: Hier
lautet die Bezeichnung des kurzen Straßenstücks der Wilhelm-
straße "Adolfstraße". Friedrich - Wilhelm - Adolf. Wie sinnig.
Vielleicht hat das "Zwei-Säulenhaus", Friedrichstraße 6, bei
dem Berichterstatter unterschwellig eine Eingebung bewirkt.
Vor langer Zeit (bis Mitte der 1920er Jahre) hatte übrigens die
Villa, damals Poststraße 6, sogar vier majestätische Kaisersäu-
len (Foto in Kleipa 1999, S. 8).
Und ab spätestens 1946 war die Villa zum Wohnsitz des einstigen
Nationalsozialisten und Pg. Dr. med. Ludwig Loos geworden. Dort
in der Poststraße 6 betrieb Loos dann auch ab Herbst 1947 für
etwa zwei Jahrzehnte seine Arztpraxis, in die dieser Verf. in
der Nachkriegszeit nichtsahnend zur Behandlung ging und wo er
im Hof mit Klassenkameraden und Freunden friedlich Tischtennis
spielte (über die Wilhelmstraße usw. wird es noch so Einiges zu
berichten geben). Anmerkung zu Loos: Er zog 1939 in Kelkheim zu,
in die Villa Gundelhardstraße 9, übernahm Anfang Januar dieses
Jahres eine Arztpraxis, Poststraße 1, seit Kriegsbeginn in der
Wehrmacht, Ober- und Stabsarzt (Praxisadresse in der Poststraße
1 bleibt in Adreßbüchern überraschenderweise bestehen), nach
Gefangenschaft 1945 kurze Praxistätigkeit, Lizenzentzug gemäß
Gesetz Nr. 8 durch die örtliche amerikanische Militärregierung
in Hofheim, Beginn der eigentlichen Arzttätigkeit in Kelkheim
im Herbst 1947 (zum einstigen Arzt der Praxis, Poststraße 1 und
zu Loos Ausführungen in Vorbereitung, Quellen u.a. HHStAW
Spruchkammerakte Loos).
Das Haus eine Nummer vor Frankfurter Straße 26 (zuvor Taunus-
straße, Adolf-Hitler-Straße, Altkönigstraße) wird hier übrigens
neben anderen Straßennummern auch noch eine Rolle spielen, wenn
nämlich dem einflußreichsten Kelkheimer Nationalsozialisten - er
agierte großdeutschlandweit - peinlichst genau auf die Finger
geguckt wird (so weit das jedenfalls machbar ist).
{*9} Ein Verhaspeln vor lauter hymnischer Blasiertheit, Ergebnis:
falsches Deutsch.
{*10} Jakob Rittgen, geb. 1.3.1891, Wellmich am Rhein: Offenbar schon
früh begeisterter Nationalsozialist (Pg. spätestens seit dem
1.5.1933, ob früher, ist noch zu prüfen), vom 1.1.1925 bis zum
30.6.1937 Bürgermeister (Heirat 1925, ursprünglich anscheinend
katholisch orientiert, nach einer Quelle einst Mitglied der SPD,
nach dem nach 1945 ersten (gewählten) Bürgermeister Willi
Stephan, CDU: 1925 gewählt von der Zentrumpartei (Stephan ist
allerdings wegen seiner NS-Verstrickung eine erheblich über-
prüfungsbedürftige Quelle); Bezeichnung in gedruckten Quellen
durchweg als Bürgermeister von Kelkheim (beachte hierbei: ge-
meint ist Kelkheim noch vor der Eingliederung der Gemeinden
Münster und Hornau), doch seit der NS-Gemeindereform von 1934
bis zum Weggang war der amtliche Begriff eigentlich Gemeinde-
schulze (siehe unten unter Claas); wohnhaft: Lorsbacher Weg
(so u.a. in Ffm-A 1930 und 1931 jeweils Kelkheim, Stand: 1929
bzw. 1930, Straßennummer bislang unbekannt).
(Zu Lorsbacher Weg: nach der Stadtgründung am 1.4.1938 ab Juni
Gundelhardtstraße genannt, vielfach auch die Angabe Gundelhard-
straße, richtig ist im Grunde "Gundelhardstraße" ohne das Nazi-
Verstärkungs-"t", im Volksmund damals und in der Nachkriegszeit
"Dogderbersch"; diese Popularnamenstaufe stammt zwar aus der
Zeit lange vor 1933, fand aber ihre Bekräftigung durch die An-
rainersituation während des Dritten Reichs, andernorts mehr
dazu.)
Rittgen war ab dem 1.1.1937 mit starker Befürwortung des NSDAP-
Kreisleiters Fritz Fuchs nach gängigem Usus für weitere zwölf
Jahre eingesetzt (!) worden, folgte aber alsbald einem Ruf ins
Bürgermeisteramt des parteilichen Kreiszentrums des National-
sozialismus Bad Soden (ab Oktober 1937 parteipolitische Neuord-
nung, das heißt, Zusammenlegung des Maintaunuskreises und des
Obertaunuskreises zum Maintaunus-Obertaunuskreis der NSDAP,
Sitz der wesentlichen Ämter: Bad Soden, anderes in Oberursel
oder Bad Homburg, verwaltungsmäßig im Sinn gewohnter Landrats-
amtsaufgaben blieben die beiden Kreise aber - mehr oder minder
dem Schein nach - selbständig, beachte: ein anderer - altherge-
brachter - Begriff für Landratsamt war damals "Kreisausschuß",
er betraf aber eher das Personal und die Mitglieder der - einst
frei - gewählten Kreisdelegiertenversammlung).
Rittgen begann in Bad Soden am 1.7.1937, war aber nur bis 1939
im Amt; er wurde am 26.6.1939 beurlaubt, da er offenbar in der
oder am Folgetag nach der sogenannten Reichkristallnacht (9./10.
11.1938) in Ausschreitungsvorgänge gegen Juden verwickelt gewe-
sen war, offenbar Eigentumsaneignungen "kleinerer" Art (Zigar-
ren), Verletzung der Dienstaufsichtspflicht; es wurde ein Par-
teiverfahren gegen etliche Personen eingeleitet, Rittgen und der
Ortsgruppenleiter Hans Faubel erhielten eine Verwarnung. Ein
Dienststrafverfahren wurde gegen Rittgen nicht angestrengt (sein
Nachfolger wurde der Pg Karl Bohle, Amtszeit: 1939 bis 1945,
lange Zeit kommissarisch, ab 10.3.1944 hauptamtlich, nach dem
Krieg 1945 inhaftiert). Rittgen hatte in Bad Soden seit dem
3.1.1938 auch das Amt des Ortsgerichtsvorstehers inne.
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Hinweis: Dieser Verf. hat am 8.4.2019 Kenntnis bekommen von
Unterlagen zu Verbrechen, die in Bad Soden am 9./10.11.1938
begangen wurden. Die Unterlagen zeigen, daß die obigen Aus-
sagen in diesem Punkt auf unzureichenden Akten beruhen und
in ihnen die Vorgänge unglaublich verharmlost dargestellt
sind. Sobald sich dieser Verf. in den Stoff eingelesen hat,
wird dazu Näheres berichtet (10.4.2019).
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Rittgen wurde dann in den Gau Wartheland (auch Warthegau) ver-
setzt, vor der Besetzung polnisches Gebiet. Sein Auftrag war,
die Tätigkeit "Bürgermeister" (eigentlich Stadtkommissar) in
Schildberg (Ostrzeszów) bei Posen auszuüben; dies tat er von
spätestens dem 19.1.1940 an bis zum 4.2.1944, von 1941 bis 1943
war er dort auch Ortsgruppenleiter (beachte: neben dem SS-Bür-
germeister Willi Graf und dem NSDAP-Ortsgruppenleiter Leo Claas
ist Rittgen also die dritte Kelkheimer NS-Führungsfigur in die-
sen mehr als berüchtigten deutschen Ostgebieten, zu denen z.B.
die Reichsgaue Wartheland, Danzig-Westpreußen und das sogenann-
te Generalgouvernement Polen zählten).
Von Februar 1944 (offenbar schon 1943 berufen) bis Kriegsende
war Rittgen Bürgermeister in Neu-Isenberg, hier sogar vom Gau-
leiter und Reichsstatthalter Jakob Sprenger eingesetzt (durch
seine günstige, sehr abgelegene, weit vom Ballungsraum Frankfurt
entfernte, also vorteilhafte Bahnanbindung dürfte Neu-Isenburg
mit seiner weiträumigen Verschiebegleisanlage im Krieg für die
zunehmend bombardierte, stark leistungsreduzierte Großstadt zu
einem wichtigen Waren- und Militärumschlagplatz geworden sein).
Rittgen "übergab" die Stadt der einrückenden amerikanischen Ar-
mee im März 1945, wurde inhaftiert und kam anschließend nach
Ludwigsburg in eines der dortigen Lager (in welches ist noch
nicht recherchiert, in Ludwigsburg gab es mehrere Lager, offen-
bar unterschiedlichster Art), wo er am 14.9.1945 starb, nicht
14.9.1944, wie von seiner Frau im posthum verfaßten Meldebogen
des Befreiungsgesetzes vom 5.3.1946 eingetragen.
Rittgen ist vor allem im Zusammenhang mit Bad Soden und Neu-
Isenburg auf Web-Seiten angeführt, allerdings ist die Qualität
der Daten durchweg dürftig bis falsch (Quellen: u.a HHStAW,
Darstellung zum Nazi-"Lieblingsbürgermeister" Rittgen in Kelk-
heim in Vorbereitung).
NB zur Gundelhard(t)straße: Gleich nach dem "Anschluß" Öster-
reichs (März 1938) gab es auch auf dem "Doktorberg" eine ent-
sprechend einschlägige Umbenennung eines Straßennamens: keiert
wurde "Ostmarkstraße", zuvor Am Berg und nach dem Krieg wieder
so, eine Straße über Unter den Nußbäumen ist das. Allerdings
standen da damals und noch etliche Jahre nach dem Krieg nur ein
paar Häuser. Es war eher ein Weg als eine Straße, der Fußweg war
lange Zeit nur gerade so mit Schlacken angedeutetet. Aber "Ost-
markweg", das macht halt wenig her, somit also "Straße". Zudem
war sie eine Stichstraße (ein "Stichweg"), vor Äckern und Obst-
anbaufeldern endend. 1939 scheint keines der Häuser eine Nummer
gehabt zu haben (MTK-A 1939), aber spätestens 1950 gab es fünf
Nummern und zwar nur die ungeraden Nummern von 1 bis 9 (MTK-A
1950), das heißt also: fünf Anwesen, links beginnend mit 1, das
linke Eckhaus, ein Schmucklandhäuschen, etwa einen Meter tiefer
als die Gundelhard(t)straße (Besitzer seit 1938 und für lange
Zeit Adam Walz, Bildhauer) und endend mit 9 (Bauherr 1935/1936:
Ernst Willas, Bankangestellter; diese beiden Namen werden hier
sicherlich irgendwann anderswo erneut auftauchen). Das "Ein-
gangshaus" zur Ostmarkstraße rechter Hand, ein Villa-ähnliches
Anwesen, gehört, anders als die Nummer 1, zur Anwesenzählung der
Gundelhard(t)straße, es hatte damals die Nummer 21 (eine kurze
Information hierzu: das Anwesen wurde 1911 erbaut und 1919 vom
damaligen ersten hauptamtlichen Bürgermeister der noch dörfli-
chen Gemeinde Kelkheim, Philipp Kremer (1878-1944), gekauft.
Kremer war von 1903 bis 1924 im Amt und erlangte offenbar trotz
des Weltkriegs einen gewissen Wohlstand, jedenfalls konnte er
dieses am "Doktorberg" - im sich gerade entwickelnden Kelkheimer
Reichenbereich also - zum Verkauf anstehende Haus kaufen (Anga-
ben u.a. aus der Gebäudesteuerrolle Kelkheim 1910 ff.). Späte-
stens 1958 erfuhr die Gundelhard(t)straße eine Umnumerierung, so
daß das Anwesen, in das etwa 1960 das evangelische Gemeindeamt
einzog, die Nummer 15 erhielt (Erweiterung und mehrfache Korrek-
tur 7.9.2022, 25.4.2023).
"Schlageterplatz" (vor und nach dem Dritten Reich "Kirchplatz")
in Münster ist ein weiteres Bezeichnungsunikum der National-
sozialisten im Kelkheimer Raum (beachte: genau genommen hätte
sich der Benennungs- bzw. Umbenennungszeit gemäß die örtliche
Urheberzuordnung konkret auf die Nationalsozialisten Münsters
beziehen müssen, zur Stadtwerdung Kelkheims bzw. zur Eingemein-
dung von Münster und Hornau im Jahr 1938 siehe andernorts).
{*11}
{*12) Bei Gelegenheit sollen das pathetische "Zogen-in-geschlossenem-
Zug" und das nicht minder hoheitlich aufgeplusterte "Sich-zu-
rückbegeben" mit einem detaillierenden Beschreibungsversuch
plastisch gemacht werden.
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HK, Dienstag, 30. Januar 1934, S. 7, Rubrik: Aus dem Main=Taunus=Kreis
→ »»
Kelkheim.
Die freiwillige Feuerwehr veranstaltete am Samstag abend {*1}
ihr 37. Stiftungsfest {*2}. Im Mittelpunkt des recht unterhaltenden
Programms stand die Ansprache des Bürgermeisters Rittgen {*3}, der der
Wehr den Dank der Gemeinde für die stets bewiesene Hilfsbereitschaft
aussprach. Gemäß dem Grundsatz "Einer für alle, alle für einen", der
sich mit dem nationalsozialistischen "Gemeinnutz geht vor Eigennutz"
deckt {*4}, sei es für die {*5} Feuerwehren nicht schwer gefallen, sich
im Vorjahr in die nationale Front einzureihen. Der Redner ließ dann
nochmals die großen Ereignisse des vergangenen Jahres vorüberziehen
und schloß mit Heilrufen auf Führer und Volk. Vier Wehrmännern konnte
für langjährige opferfreudige Tätigkeit in der Feuerwehr das neue
silberne Verdienstabzeichen mit Urkunde des Preuß. [Preußischen]
Ministerpräsidenten Göring überreicht werden und zwar Vinzenz Maier,
Josef Morshäuser, Erasmus Herr und Theodor Beer. Ein 5. Abzeichen war
für den kürzlich tödlich verunglückten Wehrmann Karl Morshäuser
eingetroffen, der nun die ihm gebührende Auszeichnung nicht mehr in
Empfang nehmen konnte {*6}.
Die Ortsbauernschaft hatte in Gemeinschaft mit der
SA=Reiterschar {*7} am Sonntag abend zu einem Familienabend eingeladen,
der sehr stark besucht war, so daß der Ortsbauernführer Seeboldt
[Seebold] {*8} mit großer Genugtuung die Kelkheimer Einwohnerschaft, in
der ja bekanntlich das Handwerk vorherrschend ist, bei dieser
Veranstaltung des Nährstandes {*9} begrüßen konnte. Auch Bürgermeister
Rittgen und Ortsgrupppenleiter der NSDAP. Pg. Lauer {*10} richteten das
Wort an die Anwesenden. Das Programm bot eine reiche Fülle von
Bühnenaufführungen, Reigen, Vorträgen usw. mit vorwiegend
ländlich=heiterem Charakter, so daß die Besucher einen recht
unterhaltenden Abend verlebten. Den musikalischen Rahmen bot die
Musikkapelle Kelkheim unter der gewandten Leitung ihres Kapellmeisters
Schick {*11}. Die schön verlaufene Veranstaltung dürfte allen
Teilnehmern noch lange in Erinnerung bleiben.
«« ←
Textvergleich(e): 1 (4.8.2015)
{*1} Also 27.1.1934
{*2} Gründung laut Homepage der Freiwilligen Feuerwehr Kelkheim:
Januar 1897 (eingesehen 29.4.2017).
{*3} Zu Rittgen siehe oben
{*4} In der Nachkriegszeit waren Anton Löw und sein Sohn Theo (Theo-
dor) in der Feuerwehr Kelkheim (Mitte) zwei unersetzliche Per-
sonen, sie warteten zum Beispiel die Löschfahrzeuge; in der
direkten Nachkriegszeit waren das eigentlich nur zwei, das eine
davon war der große Lösch-LKW, der offensichtlich im Dritten
Reich angeschafft worden war.
Zu den beiden im Bericht zitierten Aussprüchen: Im Dritten Reich
begegnete man ihnen ständig.
Auf Theodor Löws Grab (Hauptfriedhof) steht auf einer Plakette
NICHT der Satz "Einer für alle, alle für einen". Beachte: Hier
ist diesem Verf. in der ursprünglichen Textversion bedauerli-
cherweise ein erheblicher Fehler unterlaufen, die Plakette auf
dem Grab der Eheleute Irma und Theo Löw trägt den im Kreis ge-
prägten Leitsatz (Berichtigung 17.11.2017):
· GOTT ZUR EHR ·
DEM NÄCHSTEN ZUR WEHR
(Bei Gelegenheit folgt eine Darstellung zur Familie Löw, zu-
nächst Mühlstraße 2 (Wohnung und Werkstatt in der Abstellkam-
mer), dann Bahnstraße 7 (Fahrradgeschäft), später Neubau Frank-
furterstraße Ecke Töpferstraße (Wohnung und Geschäft), ein Wohn-
bezirk, der in seiner Gänze nicht mehr existiert.
Die Löws spielten im Leben dieses Verf. während der direkten
Nachkriegszeit und Anfang der 1950er Jahre eine sehr wichtige
Rolle, Stichworte: Unterkunft und Fahrradgeschäft.
Daß die alte Unterstadt Kelkheims dem Erdboden gleich gemacht
wurde, erzwingt eine Darstellung, allerdings an anderer Stelle,
und hierbei geht es ganz besonders um grundsätzliche Themen.
Nicht zu erwarten ist jedoch, daß den Verantwortlichen reich-
lich Lob zuteil wird.)
Anfügung (21.1.2019): Wie der von Anton Löw ausgefüllte und
unterschriebene "Meldebogen" des Gesetzes zur Befreiung von
Nationalsozialismus und Militarismus vom 5.3.1946 zeigt, war
Anton Löw Mitglied des NSKK. Seine widersprüchliche, seltsame
Angabe zur NSDAP-Mitgliedschaft (er übertippte das von ihm ge-
tippte "Mitglied" dick mit "Anwärter") läuft beim gegenwärti-
gen Kenntnisstand eindeutig auf Mitgliedschaft hinaus, und er
zahlte auch laut (ebenfalls unklarer) Angabe auf dem Meldebogen
offenbar von Juni 1938 an Mitgliedsbeiträge.
Wie es ein Mitglied der NSDAP und des NSKK schaffte, in der
direkten Nachkriegszeit auf dem Militärflughafen der amerikani-
schen Besatzungsmacht angestellt zu werden, ist ein Wunder, aber
sicherlich kein Einzelfall: Die Amerikaner benötigten deutsche
Fachkräfte.
Trotzallem könnte dabei ein Filtermangel eine Rolle gespielt
haben, denn es ist zu befürchten, daß Löws NSDAP-Mitglieder-
karteikarte nicht mehr existierte (Überprüfung ist in Vorberei-
tung). Auf jeden Fall wird dieser Verf. die dilemmatische Situ-
ation, in der er sich im Fall Anton Löw befindet, in den oben
angesprochenen Bericht einbeziehen.
{*5} "die": Damit meint Rittgen natürlich alle Feuerwehren. Und
"nationale Front" geht schon in Richtung Deutsche Arbeits-
front" (DAF), obwohl diese erst neun Monate alt ist und die
Eingliederung der Nationalsozialistischen Betriebszellen-Orga-
nisation (NSBO) noch gar nicht richtig in Gang gesetzt worden
war. Rittgen ist offensichtlich auf der Höhe der Nazi-Entwick-
lung.
Die NSBO war gerade für Kelkheim wichtig; eine ausführliche
Diskussion wird sich mit diesem Thema beschäftigen, denn einer
der massiven Fehler bei der Entwicklung und Ausgestaltung des
Entnazifizierungs- und Entmilitarisierungsgesetzes vom 5. März
1946 war die Unterschätzung bzw. Außerachtlassung der NSBO.
{*6} Theodor Beer, Schreiner, Adolf-Hitler-Straße 25 (direkte Nach-
kiegszeit: Altkönigstraße, spätestens 1956 Frankfurterstraße);
Erasmus Herr, Schneider, Rossertstraße 12 (heute Weberstraße),
(nicht zu verwechseln mit Maria Planz, Rossertstraße 9, Herren-
Modeartikel, Trikotagen, Kurzwaren, "Verkauf Parteiamtlicher
Artikel", so in einer Annonce von 1939; Heinrich Planz, Maschi-
nenarbeiter, war wohl der Mann da im Haus); Vinzenz Maier, Mö-
belfabrikant, Frankfurterstraße 7 (Adresse hat nichts mit der
heutigen Frankfurterstraße zu tun, eine Straßenkarte für die
Zeit vor 1938, ab Juni 1938 und für die Nachkriegszeit usw. ist
in Planung, zu Straßennamenänderungen nach dem 1.4.1938 siehe
auch unter 1938); zu Josef Morshäuser keine Angaben gefunden;
Karl Morshäuser, Hilfsarbeiter, Adolf-Hitler-Straße [o. Nr.]
(außer Josef Morshäuser alle in MTK-A 1939, eigenartigerweise
auch der verstorbene Karl Morshäuser [!?])
{*7} Eine Einschätzung dieses Berichtes und ähnlicher dieser Art
wird im Zusammenhang mit Peter Neun angegangen, Betriebsleiter
und Prokurist der Firma Dichmann AG. Zur im Dritten Reich
nationalsozialistisch ausgerichteten Firma Dichmann ist eben-
falls eine ausführliche Darstellung in Arbeit.
{*7} Zum SA-Reitplatz siehe andernorts (in Vorbereitung).
{*8} Georg Seebold 5., geb. 13.11.1891 in Kelkheim/Taunus, Landwirt,
Schreinermeister, Bahnstraße 17 (u.a. im MTK-A 1939, beachte:
damals, etwa Mitte der 1930er Jahre, erfuhr offenbar die linke
Seite der Bahnstraße von 7 bis 15, ja vermutlich sogar bis 17,
dubiose Numerierungswechsel, eine Aufstellung ist in Vorberei-
tung, zur Entwirrung dienen dabei nicht nur Adreßbücher, sondern
auch Katasterunterlagen).
Seebold wurde offenbar im Spätsommer oder Frühherbst 1934 NSDAP-
Ortsgruppenleiter, jedenfalls war er ohne Zweifel der Nachfolger
des Joseph Lauer (siehe oben), zwei Angaben zum Beginn seines
OGL-Amts von Seebold selbst: 1934 UND 1935 (Diskussion andern-
orts); vor Lauer gab es nur einen Stützpunktleiter (zu den Nazi-
Anfängen in Kelkheim-Mitte siehe andernorts). Seebold war eine
der zentralen Personen des Nationalsozialismus in Kelkheim,
Inhaber zahlreicher (NS-)Ämter, z.B. Ortsbauernführer ab
1.5.1933 (also schon vor dem Amt Ortsgruppenleiter, Vorgänger
war Anton Klarmann 2. (NDSAP), Hauptstraße 14, das ist ein Haus
vor dem Gasthaus zum Löwen: "Löwe Schorsch", später in den
1950er Jahren "Löwe Minna"), NSDAP-Schulungsleiter ab 1.5.1934,
Ortsgerichtsvorsteher ab 16.5.1939 (Vorgänger: Klarmann, siehe
oben). Nach eigener Aussage (vorgeblich) zunächst "stellvertre-
tender" Ortsgruppenleiter (so im "Meldebogen" gemäß Befreiungs-
gesetz am 22.10.1946), Angabe im "großen (= 6seitigen) Fragebo-
gen" der Military Government von 1945 (ausgefüllt am 6.12.1946):
"Ortsgruppenleiter". So auch die Angabe in offiziellen und übli-
chen Quellen (Adreßbücher, Zeitungsberichte, amtliches Schrift-
gut usw.). Auch 1. Beigeordneter, stellvertretender Bürgermei-
ster, leitete die Gemeinde bzw. die Stadt Kelkheim zunächst vom
Sommer 1937 bis zur Einsetzung des SS-Bürgermeisters Willi Graf
im August 1938. Er ist führend verantwortlich für die Planung
des - im lokalen Bereich politisch und wirtschaftlich ehrgeizi-
gen und monumentalen - NS-Projekts "Stadthalle", leitete gemein-
deseits (bzw. vom Ergebnis her gesehen: städtischerseits) die
gesamte Entwicklung des NS-Zusammenschlusses der Gemeinden Hor-
nau, Kelkheim und Münster zur Stadt Kelkheim ("Eingliederung zu
einem Ganzen") - das ist die vom Kasseler Oberpräsidenten ge-
wollte NS-Erhebung Kelkheims zur Stadt - und führte 1937/1938
die Bürgermeisterwahl auf Geheiß und unter Aufsicht der maßgeb-
lichen Amtsstellen (Landrat, Regierungspräsident, NSDAP-Kreis-
leiter) von der Planung, Ausschreibung bis zum Abschluß durch
(die Ausschreibung lief deutschlandweit, Darstellung von Listen
und anderem Material in Vorbereitung).
Seebold war zudem von Januar 1940 an erneut der erste Mann im
Rathaus, er vertrat den in der "Aufbauarbeit im Osten" sein
(Sieg) Heil suchenden SS-Bürgermeister Graf (dieser starb im
Juni 1944 in Frankreich, siehe unten), bot sich nach dem Tod
Grafs als nachfolgender Bürgermeister an, wobei seine Bewerbung
(in Form der NS-üblichen Einsetzung) den Akten nach sicherlich
positiv beschieden worden wäre; leitete ("führte") jedenfalls
die Stadt bis zur Besetzung durch die US-Armee. Von den rund 12
Jahren der "aktiven" NS-Zeit war der Ortsgruppenleiter Seebold
somit während gut der Hälfte davon NS-Chef im Kelkheimer Rat-
haus. 1945 wurde er von der amerikanischen Militärregierung in-
haftiert, Lager: zunächst Ludwigsburg, dann Darmstadt, Rhein-
straße. Sein "Entnazifizierungsprozeß" fand nicht vor der
eigentlich zuständigen Spruchkammer Main-Taunus Hochheim statt,
sondern (wie bei seinen Nazi-Kumpanen Claas, Münster, und Meh-
ler, Hornau {*a}) vor der Spruchkammer Darmstadt-Lager; als
Zeuge auf der Seebold-Seite hatte sich u.a. der frisch gebackene
Kelkheimer Bürgermeister Willi Stephan (CDU) auf den damals sehr
weiten Weg gemacht (Quellen: u.a. HHStAW Spruchkammerakten, Dar-
stellungen zu Seebold, Graf usw. in Arbeit, zu Graf siehe auch
unten).
{*a} Berichtigung/Ergänzung (31.8./6.10.2019): Das im Darmstadt-
Lager anberaumte Verfahren gegen Mehler kam nach Aktenlage
nicht über eine Klageschrift hinaus, es wurde zur Fortset-
zung der in Hochheim arbeitenden Spruchkammer Main-Taunus
übergeben.
Alle drei Fälle landeten bei der Berufungskammer Frankfurt
am Main, allerdings waren dort die Verfahren sehr unter-
schiedlich: Claas strengte ein regelrechtes Berufungsver-
fahren an. Bei Mehler kam es zu dem bereits im ersten
Spruch angeordneten Nachverfahren (= Überprüfungsverfahren
bei einer Bewährungsauflage mit dem Ziel der endgültigen
Einstufung); die Grundlage dafür bildete eine Stellung-
nahme des Bürgermeisters Stephan (nicht vorhanden, aber
offensichtlich positiv), Ergebnis: Reduzierung = Herab-
stufung. Bei Seebold wurde die sogenannte Rechtskraft-
bestätigung abgewickelt; sie ergab, soweit bis jetzt zu
sehen, nur eine Reduktion der ohnehin geringen Kosten
(= Verfahrenskosten und Sühnebetrag), auch hier war wie-
der Stephan aktiv, er verfaßte mindestens zwei auf See-
bolds Verarmungslage hinweisende Schreiben; immerhin konn-
te aber der so notleidende Seebold schon gegen 1950/51 sein
bombengeschädigtes Haus derart "ausbessern", daß auf die
im Parterre gelegene Drogerie Wolf zwei Stockwerke drauf-
gesetzt wurden (diese Fassung des Hauses existiert nicht
mehr).
{*9} Unter "Nährstand" wird alles verstanden, was mit der Landwirt-
schaft zusammenhängt. Die Bauernschaft war in Deutschland nahezu
flächendeckend nationalsozialistisch ausgerichtet, und so natür-
lich auch in Kelkheim.
{*10} Zu Lauer siehe oben.
{*11} ============================================================
Beachte:
Der in Adreßbüchern bezüglich Rossert-, Mühlstraße und Mühl-
berg angetroffene Straßenbenennungs- und Hausnummernwirrwarr
wird bei Gelegenheit versucht, anhand der (auch nicht immer
ganz klaren) Gebäudesteuerrolle zu entwirren (zur Gebäude-
steuerrolle siehe andernorts) .
============================================================
Jean Schick, Leiter des Musikvereins zumindest 1934. Der Musik-
verein übte in Kelkheim und in der näheren Umgebung eine sozial
bindende Funktion aus. Er trat mit leichterer und schwieriger
Musik bei Veranstaltungen unterschiedlicher Art auf, z.B. unter-
stützte er auch den katholischen Kirchenchor des Klosters. Lei-
ter des Chors war (zumindest 1934) Bruno Semrau (HK, 21.4.1934,
S. 10, Annonce; Näheres zu Semrau siehe weiter unten).
Ein Wohnsitznachweis zu Jean Schick ist noch nicht aufgetaucht.
Falls er zur Kelkheimer Schickfamiliengruppe gehörte, gäbe es
hierbei nur zwei Möglichkeiten: Die Familie des Nationalsozia-
listen Adam Schick 2., Dentist, Feldbergstraße 1 (Vater des Dr.
Willi Schick, Zahnarzt, Praxis ab etwa 1949 ebenda) oder der
Familienkreis des Wilhelm Schick, Postschaffner, später Post-
sekretär, Mühlstraße 19. Vater des Wilhelm Schick war offenbar
Adam Schick 1., Schreiner, ebenfalls Mühlstraße 19, somit waren
wohl Wilhelm Schick und der Dentist Brüder.
"Mühlstraße 19" war ein Haus am Liederbach, vor der Mühle des
Philipp Finger 1., Landwirt, Mühlstraße 21; bachaufwärts gese-
hen, lag die Mühle rechts des Liederbachs, "Mühlstraße 19" hin-
gegen links, "jenseits" des Bachs, gleich hinter der Brücke
(alle hier angeführten Adressenangaben nach: Ffm-A 1930 Kelk-
heim, MTK-A 1939) {*a}.
Beachte: Hier in diesem Bereich Ende der Mühlstraße, Kieskaut
(auch "Kisskaut", Volksmundbezeichnung für den "Liederbach-
teil" der damals noch bis zur Hornauerstraße reichenden Rossert-
straße), Finger-Mühle und deren Lieder- und Mühlbachinsel hat es
in den letzten Jahrzehnten schlimme bauliche und landschaftliche
Verformungen gegeben, die eine kritische Beurteilung geradezu
herausfordern und das soll bei Gelegenheit andernorts auch ange-
gangen werden; der Hauptgrund für diese Deformationen ist offen-
kundig ein Mangel an Kenntnis der geographischen Gegebenheiten,
ein Verkennen der Möglichkeiten ist auch dabei, auch mangelte es
scheinbar einerseits an persönlicher Anschauung aus dem Erleben
heraus und andererseits an grundlegend nachhaltigen, in die Zu-
kunft weisenden, existentiell so dringend notwendigen Lebensvor-
stellungen (Stichwort: Daseinsphilosophie). Hoffentlich findet
der mißlichen Angelegenheit zum Trotz wenigstens das oberhalb
von allem am Kirchweg aufgestellte, so ÜBERAUS geschmackvolle
Ablaßschild Gehör (bewundert Anfang April 2017).
{*a} Siehe Kleipa 1999, das Foto auf dem Deckblatt, Blick von
der Finger-Mühle aus bachabwärts auf "Mühlstraße 19". Da-
tierung des Fotos laut Begleittext (S. [2]): um 1920.
Direkt nach dem Krieg im Wesentlichen der gleiche Zustand
(das machen auch Fotos von der 1949er Erstkommunionprozes-
sion deutlich, im Besitz dieses Verf.).
=====================================
HK, Samstag, 21. April 1934, S. 6
→ »»
Hitler=Geburtstagsfeiern in den Kreisgemeinden.
[I] Pflanzung einer Adolf=Hitler-Linde in Münster.
Unter der Leitung des Gemeindeschulzen [Claas] und des
Ortsgruppenleiters [Naumann, zu beiden siehe unten] feierte die
ganze Gemeinde durch die Teilnahme sämtlicher Organisationen und
Vereine den 20. April, den Geburtstag des Volkskanzlers Adolf Hitler.
Gegen 8 Uhr wurde geschlossen {*1} von der Wirtschaft Peter Gasser {*2}
abmarschiert. Voran das Jungvolk, nachfolgend sämtliche Fahnen der
Ortsvereine, das Trommlerkorps der Turngemeine, eine SA=Kapelle, die
SA, die politischen und weltlichen Vereine. Auf dem freien Platz Ecke
Kelkheimer und Lorsbacher Straße wurde eine Linde geflanzt {*3}.
Während die Kapelle einen Choral {*4} spielte, nahm ein SA=Mann unter
Beihilfe von 2 Jungvolkpimpfen die Pflanzung der Linde vor. Im Beisein
von Kreisleiter F u ch s [Fuchs] {*5} wies Ortsgruppenleiter
N a u m a n n [Naumann] {*6} in seiner kernigen deutschen und sehr
deutlichen Rede {*7} auf die großen Verdienste unseres Volkskanzlers
hin und vermachte diesem zum 45. Geburtstag als Geschenk der Gemeinde
Münster {*8} diese junge Linde, die er Adolf Hitler=Linde taufte
und dem Gemeindeschulzen zum Schutz übergab. Gemeindeschulze
C l a a s [Claas] {*9} versprach im Namen der Gemeinde für das
Wohlergehen der Linde besorgt zu sein. Unter Begleitung der
SA=Kapelle wurde durch Absingen der nationalen Hymnen {*10} diese
denkwüdige Feier beendet.
«« ←
Textvergleich(e): 2 (11.8.2015, 4.5.2017)
{*1}
{*2}
{*3}
{*4}
{*5} Fritz Fuchs, Bad Soden, Niederhofheimer Straße 4, Ortsgruppen-
leiter, Kreisleiter (Di-Verz-NSDAP-GHN 1934); ab 1.10.1937
Kreisleiter in Mainz; Nachfolger: Karl Scheyer (HK, 25.9.1937,
S. 6).
{*6} Max Naumann, Ortsgruppenleiter, Taunusstraße 11 (Di-Verz-NSDAP-
GHN 1934; MTK-A 1939: Taunusstraße 9, Pensionär, später Wiesen-
straße 3, Wiesenstraße heute Am Waldeck), nach eigenen Angaben
zunächst, ab Februar 1932, Stützpunktleiter, Ortsgruppenleiter
bis 30.6.1937, Nachfolger wurde Leonhard Claas (siehe unten).
{*7}
{*8}
{*9} Leonhard (Leo) Claas, geb. 6.11.1905, Lobberich, Kreis Krefeld,
(Stadtober-)Inspektor, (Regierungs-?, Stadt-)Amtmann, Frankfur-
terstraße 53 (MTK-A 1939, nach dem Krieg auch: 51; Darstellung
zur sozialen- und wirtschaftlichen Bebauungs- und Wohnlage zwi-
schen Münster und Kelkheim siehe andernorts); u.a. NSDAP-, NSKK-
Mitglied, Wahl zum Bürgermeister von Münster am 30.3.1933, amt-
liche Bestätigung bzw. Vereidigung am 5.5.1933 (zum Bürgermei-
steramt in Westerburg/Westerwald siehe unten); 1937 Nachfolger
von Naumann (siehe oben) als Ortsgruppenleiter (nach eigenen
Angaben vom 1.7.1937 bis 30.6.1939); danach (ab Juli 1939) Orts-
gruppenleiter in Kelkheim-Süd (= Münster): Christian Kunz, Kla-
viertechniker und -stimmer, Frankfurterstraße 126 (MTK-A 1939),
dessen Nachfolger bzw. kommissarischer Vertreter seit vermutlich
1943, Februar 1944 nachgewiesen: Kilp, so die Abzeichnung einer
beglaubigten Abschrift eines amtlichen Schreibens: "Heil
Hitler ! [/] gez. Kilp [/] Ortsgruppenleiter [/] m.d.W.d.G.b.
[= mit der Wahrnehmung der Geschäfte beauftragt]", das ist
höchstwahrscheinlich Johann Kilp 9., Landwirt, Frankfurterstraße
141 (MTK-A 1939), laut Landratsamtskarteikarte für Münster,
Stand 1937/Anfang 1938: Pg, Gemeinderat.
Zu Claas: Nach der von der Gestapo im Februar 1939 verfügten
Schließung des Klosters, wobei alle Mönche und Brüder verhaftet
wurden (15.2.), setzte Landrat Janke, offensichtlich auf Weisung
des Wiesbadener Regierungspräsidenten, des Erz-Nazis Friedrich
(Fritz) Pfeffer von Salomon (in NS-Kreisen von altersher und im
Dritten Reich natürlich nur: von Pfeffer), den seit Stadtgrün-
dung in der Kelkheimer Stadtverwaltung als Inspektor angestell-
ten "tüchtigen" (Janke) Claas als Finanz- und Vermögensverwalter
des Klosters ein. Auch nach dem Krieg war Claas nach kurzer Zeit
wieder bei der Stadt tätig (auf einem festen Posten seit späte-
stens 1954), er wurde dort u.a. Stadtoberinspektor, Stadtamt-
mann.
Nach der NS-Stadtgründung Kelkheims am 1.4.1938 übte Claas neben
seiner Anstellung bei der Stadt im Ortsteil Münster (NS-amtlich
jetzt "Kelkheim-Süd") weiter die Funktion des NSDAP-Ortsgruppen-
leiters aus; ab 1.7.1939 als Bürgermeister eingesetzt in der
Kreisstadt Westerburg/Westerwald, für Claas ein enormer Karri-
eresprung, dort wohnhaft mit Familie: Gemündener Tor 3; Septem-
ber 1940: Einberufung zur Wehrmacht (Frankreich, Luftwaffe, Bau-
bataillon).
Aufgrund einer am 29.7.1941 ergangenen Verfügung des NS-Reichs-
ministers des Innern (Frick) wurde Claas ab Mitte August Stadt-
kommissar von Cholm, Generalgouvernement Polen (Distrikt Lublin,
Cholm auch Chelm, Grenzstadt, Grenzpolizeistelle, Außenstelle
des KdS Lublin, KdS = Kommando/Kommandeur der Sicherheitspolizei
und des Sicherheitsdienstes, Kommandeur zur Amtszeit Claas':
Johannes Müller; beachte: dieses Cholm nicht verwechseln mit dem
russischen Cholm im Gebiet Nowgorod, südlich von Sankt Peters-
burg, damals Leningrad, Stichwort: Schlacht um Cholm/"Kessel von
Cholm", Anfang/Frühjahr 1942).
Unter den sehr umfangreichen Akten zum Lublin-Prozeßkomplex (199
Ordner) befindet sich auch eine längere Vernehmung {*a} Claas'
von 1961 (5 1/2 DIN A4-Seiten) mit einer für das wahrscheinlich
gesamte Ermittlungsprozedere typischen Aussage solcher dort auf
an- und vorgeblich nichtpolizeilichen Stellen eingesetzten Leu-
te: Wir waren nur eng begrenzt für dies und das zuständig, wir
waren Staatsverwaltungsbeamte, tätig nur in unteren Dienststel-
lungen, abhängige Weisungsempfänger, wir hatten zudem mit Akti-
onen (Deportationen, Aus- und Umsiedlungsmaßnahmen, "Entjudungs-
vorgängen" im Zusammenhang mit der "Endlösung", Unterwerfungs-
maßnahmen gegen Slawen, Massenerschießungen von Juden und russi-
schen Kriegsgefangenen, Gaslastwageneinsätzen, Massenverbrennun-
gen auf Scheiterhaufen, Aushebungen von Massengräbern usw.) der
Polizeikräfte, SS, Gestapo und der motorisierten Feldgendarmerie
nicht das Geringste zu tun.
{*a} Im früheren Textstadium hieß es hier "Zeugenvernehmung".
Das ist falsch, denn das Protokoll ist mit "Vernehmung"
überschrieben.
Wie der Oberstaatsanwalt Wiesbaden auf Claas kam, ist der-
zeit nicht bekannt. Die Vernehmung führte der Gerichts-
assessor Ferdinand Sommerlad (1926-2003, später Oberstaats-
anwalt), er war allein, eine Justizangestellte protokol-
lierte. Der ungefähr 35jährige Assessor war diesem im Drit-
ten Reich hochkarätigen NS-Verwaltungsbeamten in keiner
Weise gewachsen. Die Vernehmung ist ungeschickt geführt
worden, Sommerlad hätte aufmerksamer sein und übrigens die
ganze Vernehmung anders anpacken müssen.
Nach Meinung dieses Verf. wären aufgrund der Vernehmung
dennoch Ermittlungen angebracht gewesen. Auch wäre zweck-
dienlich gewesen, wenn, wie bei anderen Vernehmungen des
öfteren geschehen, ein zweiter, erfahrener Kriminalbeamter
teilgenommen hätte (Kreuzverhör). Weiteres zur Sache ist
derzeit noch nicht bekannt.
Claas hat im Übrigen (nach dem Protokoll zu urteilen) in
seiner biographischen Einleitung seine Kelkheimer Ortsgrup-
penleiter-Etappe verschwiegen. Zu haarsträubenden und nach
Auffassung dieses Verf. verräterischen Formulierungen bei
Gelegenheit Einzelheiten.
Beobachtung am Rande: Claas füllte (1961!) "selbst" (bei
"gelesen, genehmigt und unterschrieben") in deutscher
Schrift aus, obwohl er in der Nachkriegszeit (Spruchkammer-
prozeßakten usw.) die lateinische Schrift offenbar durch-
gängig verwendete. Ähnliche seltsam "antiquierende", unauf-
fällig-auffällige, wie Trotz anmutende Symbolerscheinungen
sind auch auf einer nach dem Krieg erstellten NSKK-Unter-
schriftenliste überliefert (siehe andernorts). Claas war
ja, wie oben gesagt, NSKK-Mitglied! (Das NSKK war als
NSDAP-Gliederung ein ziemlich elitärer, sehr NS-bewußter
Verband.)
Claas übte dieses Stadtkommissariatsamt laut u.a. des Fragebo-
gens der Military Government of Germany (unterschrieben am
4.3.1946) anscheinend bis zum 25.9.1943 aus, wurde dann wieder
zur Wehrmacht bzw. Luftwaffe versetzt (Bodeneinsatz, Feldmuni-
tionslager 11/XI "Weser" {*a}, Büro/Geschäftszimmer). Nach
eigener Aussage (Lebenslauf vom 10.10.1946) erreichte ihn da,
laut Claas: 1944, die Nachricht, daß er (als gestandener und be-
währter Mann?) ab dem "1.4.1944 endgültig ["endgültig"?] in die
Verwaltung des Generalgouvernements versetzt und als Reg.Amtmann
übernommen sei."
Versetzt also in ein völkisches, verbrecherisches und militäri-
sches Inferno östlichen Zuschnitts sondergleichen; offenbar er-
neut als "Verwaltungsbeamter" - und mutmaßlich doch wohl min-
destens wieder auf kommissarischer Ebene (eigene Angabe: Reichs-
besoldungsordnung "Gr 3 b"; was bedeutet das? Gruppe "B 3b" wäre
gewaltig hoch, zu hoch für Claas?). Dazu kam es aber offenbar
nicht mehr (widersprüchliche bzw. unklare eigene Aussagen hier-
zu). Er geriet in französische Gefangenschaft.
Nach dieser wurde Claas am 18.2.1946 inhaftiert (MG of Germany-
Fragebogen, siehe oben; Arrest Report: verhaftet in Hofheim am
19.2.1946), am 1.3.1946 wurde er ins International Camp Darm-
stadt (Internierungslager Darmstadt, Rheinstraße) überstellt.
Beachte: Da in den damaligen sogenannten deutschen Ostgebieten
neben Claas auch sein einstiger Kelkheimer Vorgesetzter, der
SS-Bürgermeister Willi Graf (siehe unten), und darüber hinaus
auch dessen Vorgänger, Jakob Rittgen (siehe oben), eingesetzt
waren, steht angesichts dieses (zunächst nur augenscheinlichen)
Trios, die bohrende Frage wie von selbst im Raum, ob und inwie-
weit etwaige Zusammenhänge und Parallelitäten bestehen könnten.
{*a} Die Bezeichnung "Weser" stammt nicht aus den Claas-Unter-
lagen, sondern aus dem Internet-Aufsatz (eingesehen 3.3.
2018): Wolfgang Gückelhorn, Der Eifelschreck - die V 1
während des Zweiten Weltkrieges im Kreis Ahrweiler.
Immerhin liegt auch über Grafs {*a} dunkle Aktivitäten dieser
Zeit, gemeint ist die Zeit ab Januar 1940, als er "in den Krieg
zog" (um das einmal so zu formulieren), einiges an Akten vor,
sie zeigen, daß partei- und regierungsamtliche Stellen zwar auf-
zuklären suchten, aber über weite Strecken doch ratlos blieben:
denn Graf hatte allem Anschein nach zwei Ämter inne (als das
zweite dürfte trotz des Unterlagenwirrwarrs NSV-Amtswalter/
Kreisamtsleiter in Zoppot/Gotenhafen {*b} anzusehen sein), er
bezog somit auch, so die breit angelegte, surreal anmutende
Ermittlungsdiskussion, mutmaßlich zwei Gehälter, war außerdem
scheinbar Mitglied des 12. SS-Totenkopfregiments in Oranienburg
(sogar der Begriff SS-Totenkopfstandarte kommt vor), taucht aber
bei einer Vorladung in der Uniform der Waffen-SS auf, im stän-
digen Gespräch ist der Wunsch nach einer UK-Stellung, doch es
fällt auch die Wendung, es sei "Aufbauarbeit im Osten" zu
leisten, dazu immer wieder das emsige Bangen um seine Bürger-
meisterpension - denn obwohl er seit Januar 1940 dieses Amt
nicht ausübte, war er immer noch Kelkheims Bürgermeister.
Schließlich hatte Graf ein Parteigerichtsverfahren am Hals, auch
fällt mehrfach der knallharte Ausdruck Dienststrafverfahren,
eröffnet wird von alldem aber nichts mehr, der Pg- und SS-Seil-
tänzer Graf stirbt - wie kam er jetzt bloß an die Invasionsfront
so plötzlich? - am 14.6.1944 in Niort/Südwestfrankreich in einem
Militärlazarett den Heldentod (er sei die Treppe runtergefal-
len), zurückblieb - "Unsagbar schwer traf mich die Nachricht"
und "In tiefer stolzer Trauer" - die Witwe Anny, geb. Gerbig,
Münsterer Straße 15, das war am damaligen Kiefernwäldchen vorbei
zwei Häuser weiter.
Zitat aus der Traueranzeige der Witwe {*c}: "Bürgermstr. d.
Stadt Kelkheim/Ts. [/] Parteigenosse [/] Willi Graf [/]
SS-Uscha. in einer SS-Division [/] Inh. des Kriegsverdienst-
kreuzes [/] 2. Kl. mit Schwertern, der Ost- [sic] [/] medaille
u. des Verw.-Abzeich., [/] Träger des gold. HJ.-Ehrenzeich."
("SS" in Runenform; Weiteres zu Claas und Graf in Vorbereitung;
Quellen: u.a. Akten des HHStAW).
{*a} Geb. 28.5.1902, Bad Homburg vor der Höhe (zur Biographie
bzw. zum Beginn seiner Amtszeit siehe unter 1938, Dokument:
Bericht im Höchster Kreisblatt vom 24.8.1938 "Kelkheims
neuer Bürgermeister").
{*b} Gotenhafen war 1939-1945 die NS-Bezeichnung für Gdynia
(vormals Gdingen). Der polnische Name für Zoppot (sehr be-
kanntes Ostseebad) lautet Sopot. Beide Städte sind westli-
che Nachbarstädte Danzigs. Seit 1920 gehörte Gdingen zu
Polen (Stichwort: Polnischer Korridor) und Zoppot zur
Freien Stadt Danzig. Nach der Besetzung Polens gehörten
alle drei, den Wirtschaftsraum Danzig-Zoppot-Gotenhafen
bildend, zum Reichsgau Danzig-Westpreußen.
{*c} Für Suchzwecke und Suchmaschinen Auflösung des schon im
Original abgekürzten Textes:
Bürgermeister der Stadt Kelkheim im Taunus, Parteigenosse
Willi Graf, SS-Unterscharfürer in einer SS-Division,
Inhaber des Kriegsverdienstkreuzes Zweiter Klasse mit
Schwertern, der Ostmedaille und des Verwundeten-Abzeichens,
Träger des goldenen HJ-Ehrenzeichens.
{*10}
→ »»
[II] . . . und in Fischbach.
Auch hier wurde zum Geburtstag des Führers gestern abend eine
Hitlerlinde gespflanzt. Unter den Klängen der guten Musikkapelle
übergab der Ortsgruppenleiter, Pg. Adam Glöckner {*1}[,] den
jungen Baum mit einer kurzen Ansprache in die Obhut der Gemeinde,
in deren Namen sie von Bürgermeister Bleistein {*2} mit ehrendem
Gedenken des Führers und seines großen Werks übernommen wurde[.]
Das Horst=Wessel=Lied beendete den kurzen, aber feierlichen Akt und
nun zog man in geschlossenem Zug, an der Spitze die Kapelle
und die SA[,] zum Parteilokal {*3}, wo sich eine Feier anschloß.
Hauptlehrer Roth {*4} hielt eine Ansprache, in der er die Bedeutung
dieses Tages und die Persönlichkeit des Führers eingehend würdigte.
Gesang= und Musikvorträge gestalteten den Abend aus, der so für die
Bevölkerung einen schönen Verlauf nahm {*5}.
*
Zu schlichten, aber würdigen Feiern hatten sich gestern abend fast
in allen Gemeinden des Main=Taunus=Kreises die Partei= und
Volksgenossen versammelt, um des Führers an seinem 45. Geburtstag
zu gedenken.
[III] In Bad Soden
fand eine Zusammenkunft im "Frankfurter Hof" {*5} statt, wo Kreisleiter
Fuchs {*6} eine kurze Ansprache hielt, die dem Führer und seinem
Wirken galt. Er richtete an alle die Auffordeung durch
nationalsozialistisches Denken und Handeln Adolf Hitler stets
nachzueifern und schloß mit dem Treugelöbnis zum Führer.
[IV] In Kriftel
fand die Feier im Saal "Zur Eisenbahn" {*7} statt. Die Ansprache
hielt Ortsgruppenleiter Hermann Hoß {*8}. Der Gesangverein
"Liederkranz" , die Turngemeinde, der neugegründete Mandolinenklub
unter Leitung von Lehrer Oppermann {*9}, ein von Frl. Butt {*10}
gesprochener Prolog, das von dem jungen Rehberger gezeigte
Kunstfahren, sowie Sprechchöre, Gedichte und ein Zwiegespräch
von HJ. und BDM. gaben der schönen Feier ihren Rahmen, die bei
allen erschienenen {*11} Volksgenossen eine tiefen Eindruck
hinterließ.
«« ←
Textvergleich(e): 1 (11.8.2015)
{*1} Adam Glöckner, Maurer, Kelkheimerstraße 4 (Di-Verz-NSDAP-GHN
1934, MTK-A 1939); Nachfolger war Hugo Hundeborn, Bildhauer-
meister, arbeitete in der Fabrik Gebrüder Dichmann AG, Kelk-
heim; war dort auch an einer dem "Führer" gewidmeten Ausstel-
lung, "Volk der Arbeit wach auf!" beteiligt, sein Kunstobjekt:
der Hoheitsadler (Darstellung dazu siehe andernorts).
MTK-A 1950: Adam Glöckner, Beruf, Adresse wie oben, Vorspann-
kasten: 1. Beigeordneter; MTK-A 1952: Adam Glöckner, gleiche
Adresse, Vorspannkasten und Adressenverzeichnis: Bürgermei-
ster [!] (Recherche dringend nötig!).
{*2} Paul Bleistein, Kaufmann, Kelkheimerstraße 14 (MTK-A 1939,
MTK-A 1952: ebenda, Pensionär), Nachfolger: Johann Althen 2.,
Schreinerei, Winkelgasse 9 (MTK-A 1939, MTK-A 1952)
{*3} Zum grünen Baum, Langstraße 40, Gastwirt: Heinrich Kippert
MTK-A 1939), Kippert war ein Pg (HK, 29.9.1937, S. 4; Kippert
MTK-A 1950 und 1952: 00). Wie alle größeren Gaststätten damals
hatte auch der Grüne Baum einen Saalbau. Gastwirt laut MTK-A
1950 und 1952: Anton Glöckner; so hieß auch der ursprüngliche
Besitzer, der 1898 den Saal hatte errichten lassen. Wahrschein-
lich ist der Anton Glöckner von um 1950/1952 ein Sohn, denn im
MTK-A 1952 wird unter der gleichen Adresse auch eine Witwe Anna
Glöckner angegeben. Zum Wirtshaus auf einem Foto von 1904 samt
einigen grundlegenden Daten siehe Kleipa 1999, S. 74. Auf dem
Foto ist die Frontseite des Saals gut genug zu erkennen, um
nachempfinden zu können, daß für damalige Verhältnisse die
Gaststätte (nach Kleipa) das "Größte Haus am Platze" tituliert
wurde, und dementsprechend verwundert auch nicht die Emporhebung
zum NSDAP-Parteilokal (das Anwesen wurden 1969 abgerissen).
{*4} Heinrich Roth, Paradiesweg 2 (MTK-A 1939; MTK-A 1952: ebenda,
Hauptlehrer)
{*5} Dachbergstraße 2, Besitzer: Wilhelm Müller (MTK-A 1939, MTK-A
1952). Zentrale Veranstaltungs- und Versammlungsstätte, taucht
in Berichten des Höchster Kreisblatt dieser Zeit stetig auf.
Annonce (MTK-A 1939): Altbekanntes Gasthaus - Großer Saal -
Schattiger Garten - Kegelbahn - Prima Apfelwein - Binding-Biere
- Bürgeriche Küche. (Gasthaus besteht heute noch, seit 1886 in
Familienbesitz.)
{*6} Fritz Fuchs (siehe oben)
{*7) Bahnhofstraße 40 (Ffm-A Kriftel 1930: Johann Lorenz Nix, Land-
und Gastwirt, MTK-A 1952: Inhaber; MTK-A 1939: Johann Lorenz
Nix, Gastwirt, Bahnhofstraße 6 (vermutlich Wohnadresse, oder
Druckfehler).
Dörfer und Städte im Dritten Reich im Hinblick auf historische,
politische und/oder "einschlägige" Straßen- oder Plätzebezeich-
nungen zu untersuchen ist ein aufschlußreiches Unternehmen.
"Einschlägige" Bezeichnungen gab es übrigens überall und oft
ziemlich gehäuft.
Das kleine Kriftel zum Beispiel (im Dritten Reich mit Hofheim
baulich noch nicht verbunden, 1939 2300 Einwohner), hatte laut
MTK-A 1939 u.a. die folgenden - vom König-Kaiserlichen bis zum
zeitlich Einschlägigen reichenden - Straßenbezeichnungen:
Friedrichstraße, Biskmarckstraße, Hindenburgstraße, Adolf-
Hitler-Straße, Horst-Wessel-Straße, Jakob-Sprenger-Straße
(Sprenger: Gauleiter). Weiterhin gab es noch: Schillerstraße,
Richard-Wagner-Straße und Jahnstraße. Ob diese drei Bezeichnun-
gen schon vor dem dritten Reich existierten? Eine scheinbar
"kaum ableitungsfähige" Bezeichnung, wie z.B. Goethestraße, hat
es im Dritten Reich nicht gegeben. Heute hat Kriftel allerdings
(wieder?) eine Goethestraße und die Richard-Wagner-Straße gibt
es auch noch - warum auch nicht, aber ein schwerwiegender Pro-
blemfall ist er, der Richard Wagner, trotzdem.
{*8} Hermann Hoß, Bahnhofstraße 7, Vorsitzender des Gartenbauwirt-
schaftsverbandes (Di-Verz-NSDAP-GHN 1934, MTK-A 1939; MTK-A
1952: Gärtner; es gab 1939 in Kriftel noch zwei weitere Hermann
Hoß, senior und junior)
{*9} Rudolf Oppermann, Lehrer, Taunusstraße 31 (Ffm-A Kriftel 1931),
Hofheim, Feldbergstraße 3 (MTK-A 1939, MTK-A 1952).
Verzeichnet ist im MTK-A 1939 unter Kriftel übrigens auch
Bruno Semrau, Hauptlehrer [= Rektor an einer Volksschule],
Schulstraße 14. Er kam von Kelkheim, Wilhelmstraße 18 (Ffm-A
Kelkheim 1931 und 1932, Berufsangabe: Lehrer) und zieht später
wieder nach Kelkheim zurück, wieder in die Wilhelmstraße, in
die kaiserliche Nobelallee, Hausnummer 10 (als Pensionär in
den 1960ern: Gimbacher Weg 2).
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Beachte:
Die Passagen in diesem Text, die Bruno Semrau betreffen,
bedürfen der Überarbeitung.
(Semrau war u.a. Mitglied in der NSDAP und der SA,
in der SA "führend tätig", Quelle: Parteistatistische
Erhebung 1939, von Semrau unterschrieben und von ihm
auch datiert mit Kriftel, 3.7.1939.)
7.11.2021
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Wilhelmstraße 10 war das Mehrfamilienhaus gehobenen Anspruchs
des Wilhelm Scholl 3., Maurermeister, Baugeschäft (Ffm-A 1930
bis 1943 Kelkheim, ebenso in MTK-A 1939; MTK-A 1950 und 1952:
Bauunternehmer, MTK-A 1962/63 bis 1968/69: Rentner bzw. Maurer-
meister); Scholls Ehefrau, Katharina Scholl (gestorben 1935),
war eine der Schwestern der sieben Dichmann-Brüder der Dichmann
AG; der Sohn der beiden, Wilhelm ("Willi") Scholl, Architekt,
wohnhaft ebenda (MTK-A 1939/Branchenverzeichnis unter "Architek-
ten", Telefonnummer wie Baugeschäft), arbeitete im Krieg in der
Firma Dichmann in rüstungsverantwortlicher Stellung; bei Dich-
mann war er nach dem Krieg offenbar nur noch wenige Jahre tätig,
er starb, wie seine Tochter diesem Verf. freundlicherweise mit-
teilte, nach langer Krankheit 1959 (das Örtliche Fernsprechbuch
Kelkheim 1956, Stand 1.7.1956, gibt unter seinem Namen und sei-
ner Adresse mit Berufsangabe "Architekt" als Telefonnummern die
der Firma Dichmann an, versehen ist der Eintrag mit "+" und
"üb." (= über), was für Weiterverbindung steht; wie dieser Ein-
trag, bei Vergleichsfällen ohne Weiteres einsichtig, hier zu
verstehen ist, ist noch unklar; einen Druckfehler kann man
eigentlich nicht vermuten, im Telefonheft ein Jahr später ist
der Eintrag gelöscht; Weiteres siehe die in Vorbereitung befind-
liche Ausführung zur Dichmann AG; beachte: bis Anfang August
2018 ging aus dieser Anmerkung nicht hervor, daß der Name "Wil-
helm Scholl" für zwei Personen gilt, nämlich für Vater und Sohn,
außerdem wurde hier lange Zeit das Haus Wilhelmstraße 10 als
"Villa" bezeichnet, das ist kein angemessener Begriff, es ist,
von der äußeren Bauform her beurteilt, und wie oben bereits be-
nannt, ein Mehrfamilienhaus gehobener Art; gebaut wurde es -
nach Katasterunterlagen - 1912. Damals gab es die Wilhelmstraße
noch kaum, die Gegend hieß Thorwies(e) (zu Todtenhohl, Thorwies,
Strichelhohl, Mittelweg und dem östlich davon gelegenen, bis an
den Berg "Über der Mühle" reichenden Haingraben sowie zu einem
Kelkheimchen, 1876 (oder so) bestehend aus etwa 70 Anwesen, na-
hezu jedes "Hofreithe" genannt, bei Gelegenheit eine historische
Mutmaßung: im Blick eine scheinbar verwunschene Märchenzeit,
doch angesichts der großstädtischen Romantik und Spätromantik,
der Industrie, Schwerindustrie und der Kaiserzeit kein Anlaß zu
Sofaträumereien, Quellen: u.a. uralte Flurkarten, Stock- und
Katasterbücher).
Bruno Semrau war auch oder vor allem Musiklehrer, er spielte
Geige und leitete in Kriftel den Männerchor. In Kelkheim war
er an der Volksschule spätestens seit der Nachkriegszeit tätig,
hier erlebte ihn dieser Verf. als Musiklehrer. Nach Kelkheim
zog Semrau wahrscheinlich noch im Krieg. Über den Grund des
Zuzugs wird man sich wohl noch Gedanken machen müssen, denn
jetzt war Semrau nicht mehr Leiter einer Schule.
Semraus Sohn Rainer wird in der Nachkriegszeit und in den 1950er
Jahren in der lokal bekannten Kapelle Diefenbach (wohnhaft in
Sossenheim) im Bereich moderne Tanzmusik zumindest bei inter-
essierten Jugendlichen eine nicht unwichtige Rolle spielen.
"Nicht unwichtig", weil für eine kulturelle Neuorientierung im
zwangsläufig zurückgebliebenen Kelkheim von nicht zu unterschät-
zender Bedeutung. Rainer Semrau spielte Klarinette und Tenor-
saxophon, wurde später Lateinlehrer und wohnte Nach dem Busch
10, im Hinterhaus der Schreinerei Karl Schamberger. Ein Haus
davor befand sich die für Kelkheims Nachkriegsgeschichte so be-
deutende soziale Anlaufstation, die Gärtnerei Buchsbaum, und es
befand sich da einst auch eine Mühle, deren Mühlrad der Erinne-
rung nach sich nach dem Krieg noch drehte, wenn auch stockend.
Die Kapelle Diefenbach gehörte zu den frühen Einflüssen, die der
Guder-Kreis begierig aufnahm, und kein Wunder zwei aus diesem
Kreis, Manfred Guder und Helmut Bögner, waren dann auch ent-
scheidend bei der Gründung des Kelkheimer Jazzclubs beteiligt,
des Jazzclubs in seiner damaligen inhaltlichen Form jedenfalls
(Bögner wanderte übrigens kurz darauf nach Südafrika aus). Das
erste Domizile des Clubs befand sich im Keller der Kremer-Villa
Gundelhardtstraße Ecke Am Berg. Daß Am Berg einst Ostmarkstraße
hieß (siehe hierzu andernorts), dürfte damals keiner der Akteure
gewußt haben (von der Unterstadt ist eine fotografische Rekon-
struktion in Planung, zum Guderkreis werden bei Gelegenheit
"Erinnerungen und Deutungen" angeboten und Bögners einstiger
Familienwohnsitz in der Firma Dichmann, in der Bergstraße, dem
ursprünglichen Stammsitz der Dichmann-Dynastie, wird im Zusam-
menhang mit der Aufarbeitung der fürchterlichen Rolle dieser
Firma im Dritten Reich natürlich nicht in Ausführungen dazu
fehlen, nebenbei: von dem Dichmann-Stammsitz steht heute auch
nichts mehr).
Anmerkung zur Wilhelmstraße: Sie dürfte nicht grundlos auf den
kaiserlichen Ehrennamen Wilhelm getauft worden sein. Denn sie
ist die Achse der ans Urkelkheimerische erinnernde einstige
(oben genannte) Thorwies-Gebiet, das ziemlich genau von den drei
erwähnten neuzeitlichen Straßennamen markiert wird. In uralten
Flurkarten und Katasterbüchern stößt man darauf, auf die Thor-
wies eben und anderes, wie z.B. auch auf die Todtenhohl.
Offenbar waren hier lange Zeit sprachliche Zeugen germanischer
Welt erhalten geblieben, Erinnerungen etwa an ein Gräberfeld,
denn mit dem eigentlich seltsamen "Thor" kann doch kaum jemand
anderes als Donar, der allgewaltige Donnergott gemeint sein (in
einem anderen Zusammenhang mehr darüber, wenn "Altgermanisches"
in Kelkheim angesprochen wird).
Eine gedachte Nobelallee war sie einst die Wilhelmstraße, der
Blick wanderte im Dritten Reich in dieser angedeuteten Pracht-
dorfstraße von der wilhelminischen Zwei- einst Viersäulenvilla
staat(s)tragend zur etwas erhöht erbauten evangelischen Kirche
am anderen Ende - mit der Hitlerlinde davor. Verweilen konnte
man in zwei Cafés, den außer dem Café Bender beiden einzigen
Kelkheims (Mitte), im Tal jedenfalls: im Café Scheib und im Café
Weyrauch - ja, und dann gab es da noch das Heinemannsche "Frank-
furter Kaufhaus" (wenn auch ein solches nur im Zwergformat). Zu-
ständig aber für den technisch allerletzten Entwicklungsschrei
war Elektro-Born: Radios, mit dabei die sogenannte Goebbels-
schnauze. Die Häuser an sich stehen noch: Poststraße 1 (heute
Friedrichstraße, MTK-A 1968/1969 noch Postraße)/Ecke Wilhelm-
straße (Scheib), Wilhelmstraße 17 seit Mitte 1938 15 (Weyrauch),
19 seit Mitte 1938 17 (Heinemann) und Born 21 später 19, aller-
dings hat das einstige Alleechen seinen (Niederwuchs-)Baumbe-
stand seit vielen, vielen Jahrzehnten eingebüßt.
{*10} Karl Butt, Polizeihauptwachtmeister, Beyerbach (Ffm-A Kriftel
1931; Ffm-A Kriftel 1930: 00, MTK-A 1952: 00). Anna But[t], ohne
Beruf [Hausfrau?], Horst-Wessel-Straße 23 (MTK-A 1939; MTK-A
1952: 00).
Zum Namen "Beyerbach" (Erklärungsversuch nach den spärlich vor-
liegenden Quellen): In der Gründerzeit (2. Hälfte des 19. Jh.)
baute ein Carl Beyerbach in einem dafür ausgewiesenen und wohl
angekauften Gebiet eine Staniolkapselfabrik auf. Beyerbach wurde
zum "Fabrikanten", zum Großindustriellen, und natürlich hatte er
auch bald sein Herrschaftshaus, die Villa Beyerbach, Unter dem
Dorf 1. Später führten Beyerbach Nachf. das Unternehmen weiter.
Das Gebiet war zu "Beyerbach" geworden. Sogar die Farbwerke
Höchst hatten dort eine Niederlassung, die Außenstelle "Farben-
fabrik Beyerbach". Diese mußte im Ersten Weltkrieg mangels Roh-
stoffen und Arbeitskräften schließen.
Wer waren die Butts? Vor allem wer war eigentlich und wo wohnte
Karl Butt? Er hatte immerhin Telefon, 1930 eine Rarität. War er
in Beyerbach (in einem Dienstgebäude) ansässig oder residierte
der Hauptwachtmeister gar in der Villa? War Erna Butt seine
Tochter? Doch damals wurden auch ältere unverheiratete Frauen
mit "Frl." "tituliert".
Auch hier wird wieder deutlich, ohne innere Ortskenntnisse keine
Lokalgeschichte - und Lokalgeschichte kann hochinteressant sein,
wenn sie versucht, "einfache" Menschen aus ihrer Anonymität zu
holen, Geschichte plastisch zu machen, wie immer das jedoch im
Einzelfall ausgehen mag.
Nebenbei: Auch in Kelkheim entstanden in der sogenannten Kaiser-
zeit solche Villen - ungefähr zehn.
Spezielle Quellen (Internet):
Verein für Computergenealogie, Historische Adreßbücher, Einträge
für Kriftel, 1902 (eingesehen 21.5.2017)
Wilfried Krementz, Kriegszeiten sind Notzeiten - Kriftel im
1. Weltkrieg, Homepage: Historische Gesellschaft Eschborn e. V.
(sehr aufschlußreicher Beirag, eingesehen 21.5.2017, auch
erschienen im MTK-Jahrbuch 2006, nicht eingesehen)
{*11} Was sonst?
[1934]
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